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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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fand, und trank die kalte Milch aus einer Tasse mit Kakaoresten von Daniels Abendessen. Dann ging er in den Salon, der nur durch eine halbhohe Wand von der Küche getrennt war, streckte sich lang im Fernsehsessel aus, stellte die Tasse auf dem Schemel zu seiner Seite ab und versuchte wieder einmal, sich auf das Buch von Janet Malcolm über den Scharlatan Mason zu konzentrieren.
    »Nur ein Mensch, der sich selbst so haßt wie du, kann ein Buch lesen, das ihn dermaßen aufwühlt«, hatte Dalia am Morgen gesagt, und dieser Satz klang in seinen Ohren nach, als er die Stelle suchte, wo er zu lesen aufgehört hatte.
    Der Satz war gefallen, als er eben ihren täglichen Streit beenden wollte, indem er das Buch zur Hand nahm und so sein vollkommenes Desinteresse demonstrierte. Er konnte nicht rekonstruieren, womit das Scharmützel begonnen hatte, erinnerte sich aber gut an einige Hiebe, die ihn durchaus getroffen hatten – obwohl er doch berüchtigt war für seine scharfen Erwiderungen.
    Er zündete sich eine Zigarette an und überlegte, was ihn an diesem beunruhigenden Buch so faszinierte. Das Buch behandelte einen Fall, der die psychoanalytische Welt über lange Zeit aufgewühlt hatte: Ein junger, begabter Analytiker, der eine blendende Karriere vor sich hatte, entpuppte sich als psychopathische Persönlichkeit und hinterhältiger Scharlatan, der bedeutende Analytiker in London und in den Vereinigten Staaten in die Irre geführt hatte. Joe fragte sich geradeheraus, ob er nicht einiges gemein habe mit Mason, und nachdem der Schritt getan und die Frage ge stellt war, blieb ihm nur eine bejahende Antwort: Auch er war, wie Mason, von einer anderen Fachrichtung gekommen, hatte das ganze Institut – wenigstens in den ersten Jahren – beeindruckt mit seinem umfangreichen Wissen, seinem persönlichen Charme, seiner Scharfsinnigkeit, seinem Humor, seiner Fähigkeit, schnell und klar die Bedrängnis seiner Patienten zu verstehen. Seit jeher hatte er die Not anderer gut erkannt. Und auch wenn sein Charme inzwischen verblaßt war, sprach ihm doch keiner seine Fähigkeiten als Diagnostiker ab.
    Er konnte es einfach nicht begreifen. Wann hatte er aufgehört, der junge, viel versprechende Analytiker zu sein? Wann war seine Begeisterung erlahmt, seit wann mischte sich die Bitterkeit in alle seine Gedanken?
    Er ahnte mehr als er wußte, daß die Monotonie der Tätigkeit an dieser Veränderung Schuld hatte. Er war zu schwach, um die Einsamkeit der täglichen therapeutischen Situation zu ertragen und das Fehlen von Bestätigung die Jahre hindurch wegzustecken. Oftmals hatte er sich, mal verbittert, mal mit Selbstironie, an einige Leitsätze erinnert, die er in den Jahren des Beginns von Deutsch zu hören bekommen hatte. Einen Satz hatte Deutsch wie ein Mantra stets aufs Neue gepredigt: »Auf unserem Weg gibt es keine Abkürzung. Jede Abkürzung verlängert nur die Strecke. Der Prozeß ist langwierig und aufreibend und mit Opfern verbunden. Mal bedarf es der Feinfühligkeit eines Graveurs, mal der Hartnäckigkeit eines Steinmetzen; aber immer bedarf es der Geduld.«
    Dumpf fühlte Joe, daß bei ihm nicht mehr das Wohl der Patienten im Vordergrund stand, sondern seine eigenen Bedürfnisse. Die Prioritäten hatten sich verschoben. Er war selbst nicht überzeugt von seinen »neuen Methoden« – wie er es nannte –, die er bei der Behandlung anzuwenden begonnen hatte.
    Auch Hildesheimer ließ sich nicht davon überzeugen, daß Joe reine Motive hatte, und beschuldigte ihn ausdrücklich, daß es ihm nur darum ginge, die Sitzungen für ihn selbst interessanter zu machen.
    Die härtesten Vorwürfe von Seiten Hildesheimers hatte er sich allerdings bei einer anderen Gelegenheit eingehandelt. Es ging um eine Eröffnungsvorlesung zur Traumdeutung, die er vor neuen Kandidaten gehalten hatte. »Um das Eis zu brechen«, wie er später dem Alten zu erklären versuchte, erzählte er den Schülern, »die so gespannt und ängstlich waren, daß ich wirklich Mitleid mit ihnen hatte«, seine eigenen Träume, »damit sie etwas zu lachen haben. Was soll daran so schrecklich sein? Wozu der heilige Ernst?«
    Selbstredend schilderte er Träume, die sehr handlungsreich waren und voller privater Details. Das brachte die Kandidaten in Verlegenheit. Die Sache sprach sich herum und kam – er hatte nie herausbekommen, durch wen – Hildesheimer zu Ohren. Der reagierte entsetzt.
    Die Furcht, die der Alte ihm einflößte, versuchte Joe damit zu beschwichtigen, daß er

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