Denn am Sabbat sollst du ruhen
über alltägliche, nichtige Dinge. Er wußte, daß diese Entfremdung nicht an ihm lag, doch sie schmerzte ihn so sehr, daß er keinen Versuch unternahm, sie zu durchbrechen. Er begegnete seinem jungen Freund mit Zartgefühl, mit Vorsicht, behandelte ihn wie ein heranwachsendes Kind und verbarg seine Verletzlichkeit.
Joe Linder kannte kein größeres Opfer als dieses – einen Menschen zu lieben und ihn doch loszulassen.
Auch die Entwicklung mit Joav schien ihm gut in seinen allgemeinen Niedergang zu passen, die Menschen wurden seiner müde. Er hatte keine Energie mehr, etwas zu ändern. Er hatte nicht die beneidenswerte Kraft der Neidorf, die dem Glauben an die Fähigkeit entsprang, das eigene Leben oder das Leben anderer ändern zu können.
Der Faden seiner Gedanken war zerrissen. Er betrachtete das Buch, die Zigarette, die im Aschenbecher zu einer Aschenrolle verglühte. Es war ausgesprochen kühl im Zimmer, und als er zur Vitrine ging und sich ein Glas Whisky eingoß, dankbar dafür, daß wenigstens die Weingläser sauber waren, meldeten sich die chronischen Rückenbeschwerden mit stechendem Schmerz. Er setzte sich wieder in den Sessel und fühlte in dem Sitz eine merkwürdige Erhöhung, die sich als Daniels Gummiente entpuppte. Mit seiner freien Hand streichelte er ihren Kopf.
An klaren Tagen konnte man durch das große Fenster die judäischen Berge sehen. Jetzt, um drei Uhr nachts, war nichts als ein schwarzer Himmel zu erkennen. Bis zu dem Bauboom im Jahre 1967 hatte das Gebäude, in dem sich noch drei weitere Wohnungen befanden, isoliert in der zauberhaften Stille Arnonas gelegen. Nun war dieser Charme verloren, nur den Nächten war noch etwas Zauber verblieben, und Joe konnte Stunden damit verbringen, in die große Dunkelheit draußen zu blicken. Manchmal saß er dem Fenster gegenüber im Sessel, bis es dämmerte.
Es gab auch andere Nächte. Wenige. Aber es gab sie.
Manchmal konnte er fröhlich sein, wenn er Menschen um sich hatte, viele Menschen, wie auf der Party vor zwei Wochen. An jenem Sabbat hatte er ein Fest gegeben, für Tami Zvi'eli, die ihre Fallstudie vorgestellt hatte und ins Institut aufgenommen worden war. Es war wirklich schön gewesen, er hatte seinen Punsch vorbereitet, der wie immer wirkte: befreiend und verblödend. Und alle waren gekommen. Dalia ging in der Rolle der Gastgeberin auf. Es herrschte Waffenstillstand. Er umarmte alle, liebte alle, sogar die Rückenschmerzen vergaß er, trotz der Kälte und obwohl sie auf der großen Terrasse gesessen hatten. Die Scherze und das Zusammengehörigkeitsgefühl erwärmten sogar die Luft draußen.
Hildesheimer fehlte, er nahm niemals an gesellschaftlichen Ereignissen teil, weil er stets damit rechnen mußte, Patienten zu treffen. »Und das«, meinte er, »gehört genau zu den Dingen, die die Übertragung unmöglich machen.« Auch Eva war nicht gekommen, und Joe fühlte sich frei von allen Behinderungen.
Der bessere Teil des Abends begann spät, als nur die Jungen übrig geblieben waren, die, die ihn noch immer verehrten. Da war er zur Höchstform aufgelaufen: geistreich, scharfsinnig, witzig. Selbst Joav, der wegen seiner Beziehung zu Tami gekommen war, war ausgelassen. Wenn er Joe zulächelte, leuchteten seine Augen wie einst. Noch tagelang war Joe glücklich. Nicht einmal als alle gegangen waren und nur die Pappbecher mit Punschresten übrig geblieben waren, senkte sich seine Stimmung, denn er sonnte sich noch in dem Gefühl, allgemein bewundert zu werden.
Er seufzte und erhob sich vom Sessel. Mechanisch ging er zum Bücherschrank und zog, beinahe ohne hinzusehen, ein Buch mit weichem Ledereinband heraus, dessen abgestoßene Ränder einst vergoldet gewesen waren. Er kannte jede Seite darin, jede Zeile.
Es gab das Gerücht, daß Stefan Deutsch Joe Linder aufer legt hatte, deutsch zu lernen, als Bedingung, um vom Insti tut akzeptiert zu werden. Joe selbst nährte jedes Gerücht, das ihn interessant machen konnte oder in ein besseres Licht stellte. Alle im Institut bewunderten sein perfektes Deutsch, aber in Wahrheit war Deutsch seine Muttersprache, da seine Eltern aus Deutschland stammten und nach Holland ausgewandert waren.
In seinen schweren Stunden suchte er bei der deutschen Dichtung Trost und Zuflucht. Das Buch öffnete sich von selbst bei Hölderlins »Hälfte des Lebens«. Obwohl er es auswendig kannte, liebte er es, die Buchstaben, die Strophen, die gotischen Satztypen zu betrachten und das dünne und feine Papier zu
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