Denn am Sabbat sollst du ruhen
sich sagte, dies sei der typische Wutausbruch eines »Jecken« und habe nichts mit ihm zu tun. Es war das erste Mal, daß er ihn völlig die Beherrschung verlieren sah. Außerordentlich scharfe Worte fielen. Unter anderem sagte Hildesheimer damals: »Sie verlieren alle Maßstäbe. Sie befriedigen nur mehr Ihre eigenen Bedürfnisse. Das Bedürfnis, geliebt zu werden, bringt Sie um den Verstand. So können Sie nicht weitermachen. Wie lange noch wollen Sie Ihre Patienten betrügen? Das ist keine Behandlung, die Sie da machen, das ist Zirkus!«
Tief im Innern wußte Joe, daß Hildesheimers Beschuldigungen eine gewisse Wahrheit enthielten, daß er genug davon hatte, tagein, tagaus Patienten zu hören, die in ihren Schmerz versunken waren, Assoziationen von ihnen zu verlangen und darauf zu bestehen, daß sie zur Wahrheit vordringen. Der Satz »Woran erinnert Sie das?« wurde für ihn zur Farce, und manchmal konnte er ihn nicht mehr mit der richtigen Betonung aussprechen. Ein Teil der Patienten spürte das. Er wußte nicht genau, wann die Zahl seiner Patienten begonnen hatte zurückzugehen, und er hatte ja auch noch mehr Patienten als genug. Allerdings gab es keine Warteliste mehr, und in letzter Zeit lagen auch keine Supervisionsgesuche mehr vor. Er kontrollierte eigentlich nur zwei fortgeschrittene Kandidaten.
Zusehends, das erkannte er, nahm er die Rolle eines Hofnarren an, die Menschen lächelten schon, wenn er nur den Mund aufmachte. Sicher: Sie kamen noch immer, um seinen Rat einzuholen, wenn es mit einem Patienten besondere Probleme gab. Dann lächelten sie nicht. Sein Einfühlungsvermögen, sein theoretisches Wissen wurde nicht angezweifelt, man vertraute nach wie vor seinen Diagnosen. Aber mehr und mehr fühlte er, daß sein Prestige bröckelte.
Und was das Dilemma vollständig machte: Seine Ehe war zerrüttet, er konnte nicht länger die Augen vor dieser Tatsache verschließen. Es war bereits die zweite Ehe, was das Gefühl, versagt zu haben, nur noch bohrender machte und seinem verzweifelten Zynismus Tür und Tor öffnete.
Er war beinahe fünfzig, Vater eines vierjährigen Sohnes, und wenn er beim Rasieren sein eigenes Gesicht im Spiegel sah, fragte er sich, wie oft ein Mensch sein Leben von vorn beginnen kann, wenn er auf seinem selbst gewählten Weg gescheitert ist.
Jedesmal, wenn er den viel versprechenden Beginn seiner Karriere und seiner ersten Ehe an sich vorüberziehen ließ, wurde ihm deutlich, daß er niemand die Schuld geben konnte. Alle Möglichkeiten hatten ihm offengestanden, und er hatte alles zerstört.
Er konnte die Verantwortung auf Deutsch abwälzen, er konnte ihm vorwerfen, daß er als Analytiker versagt habe. Aber das Wissen, daß die Analyse, die er durchgemacht hatte, nicht alle Probleme lösen konnte, verschaffte ihm nicht gerade Erleichterung.
Und Nacht für Nacht mußte er an seine erste Frau denken. Was wäre geschehen, wenn er sie nicht hätte gehen lassen, wenn er nicht auf der Abtreibung bestanden hätte, wenn er sich nicht so dagegen gewehrt hätte, Vater zu werden? Seine erste Ehe, das war die vertane Chance seines Lebens gewesen. Sie hatte sich, wie er vor einigen Jahren entdecken mußte, inzwischen eine neue, erfüllte Existenz aufgebaut. Sie war immer in der Lage gewesen, das Leben zu genießen, sie war ein optimistischer, unkomplizierter Mensch. Wenn er damals begriffen hätte, daß ihr Glück nur von ihm abhing, daß er nur anzunehmen brauchte, was er über alles liebte, dann hätte er sie nicht gehen lassen.
Sie hätten ein gemeinsames Leben führen können, wenn er zu seiner Verantwortung gestanden hätte. Er hätte nicht auf der Abtreibung bestehen dürfen. Die Gründe, mit denen er seinen Entschluß, niemals Kinder zu haben, begründet hatte, hatte er vergessen. Aber er erinnerte sich gut an den Tag, an dem er sie nach Hause gefahren hatte, blaß und geschwächt, die Augen voller Tränen, in die ungeheizte Wohnung; dort hatte er ihr zwei Tage lang Tee gebracht, der sie nicht wärmte. Er konnte sie nicht berühren.
Als er sie nach zwei Monaten zum Flugplatz fuhr, waren ihre Lippen entschlossen aufeinander gepreßt. Sie flog nach New York. Zwei Jahre später machte er ihr keine Schwierigkeiten, als sie »die Sache formell beenden wollte« und nach Israel zurückkehrte, um sich scheiden zu lassen. Etwas in ihrem Ausdruck machte den bloßen Gedanken an Versöhnung unmöglich. Sie hatte ihm nicht vergeben.
In Wahrheit, dachte Joe und betrachtete den Einband des Buches,
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