Denn am Sabbat sollst du ruhen
bewußt, welche wichtige Rolle Eva Neidorf für ihn gespielt hatte. Die Tatsache ihres Todes war so unwirklich, daß sie tatsächlich völlig irrele vant blieb. Er schloß seine Augen, öffnete sie und ging zum Arzneimittelschrank, der über dem Küchentisch hing (Wundpflaster, Aspirin, Jod, Akamol – »wie ein Erste- Hilfe-Koffer im Kindergarten, es fehlen nur die Zäpfchen«, bemerkte Joe Linder stets trocken, wenn er eine Tablette brauchte). Der bloße Gedanke an Wasser erregte in ihm Übelkeit, so schluckte er die zwei Aspirin trocken.
Hildesheimer stand schweigend am Fenster. Es war kurz vor zehn, und Gold erwartete mit Schrecken, aber auch mit einer gewissen gemeinen Vorfreude, daß schockierte und aufgewühlte Menschen in wenigen Minuten das Haus fül len würden. Er begriff nicht ganz die Sache mit der Polizei und dem Revolver, aber Hildesheimer wirkte so distanziert, daß er nicht wußte, wie er sich an ihn wenden oder sogar Erklärungen von ihm verlangen sollte. Daher beschloß Gold, stoisch zu warten, bis sich alles von selbst aufklären würde. Und dann begann der Alte zu sprechen: Es sei sicher ein furchtbares Erlebnis für ihn gewesen, sie so vorzufinden. Er bedauere dies wirklich. Gold, dankbar für jedes Wort, staunte über die seelischen Kräfte des Alten. Aber du staunst immer über ihn, dachte Gold. Wenn nicht über seinen Mut, so über seine Einsicht oder darüber, wie er sein Alter trägt, über seine Genauigkeit, seine Bescheidenheit, seine Zurückhaltung.
Bis Hildesheimer ihm begegnet war, hatte sich Gold einen tatsächlich fleischgewordenen Mythos nicht vorstellen können. Nun war Hildesheimers bloße Anwesenheit eine Art Versprechen, daß nicht alles gänzlich zusammenbre chen werde. Wenn Hildesheimer die notwendigen Worte finden konnte, war noch nichts verloren. Gleichwohl, gestand er sich, waren seine Worte nicht von derselben emotionalen Wärme gewesen, die ihn sonst auszeichnete; vielmehr zeugten die Worte von einer Selbstdisziplin, die ihn einschüchterte und daran hinderte, sein Erstaunen offen kundzutun. Es war ihm beispielsweise unmöglich, laut sein Erstaunen über die Existenz eines Revolvers auszudrücken. Er beschloß daher, weiter zu warten.
Und gerade, als er beschloß, weiter schweigend zu verharren, hob der Aufruhr an, dessen Echo seit jenem Tag in ihm widerhallte, wann immer er sich dem Institut näherte.
Der Arzt, der in einem Krankenwagen mit zwei Pflegern kam, klopfte an die Tür, die abgeschlossen war, und Hildesheimer eilte mit einer für sein Alter unglaublichen Behendigkeit zum Eingang. Alle, die später kamen, mußten weder klopfen noch klingeln. Die Tür, die das Institut immer von der Welt getrennt hatte, die Tür, die den Ort, der für Gold der sicherste auf der Welt gewesen war, geschützt hatte – die Tür blieb den ganzen Morgen über offen stehen. Und durch sie drangen Dinge in das Institut, die nicht dorthin gehör ten, die bis dahin nur in den Ängsten und Ahnungen der Patienten existiert hatten. Jetzt wurden sie Wirklichkeit, und nichts paßte mehr zusammen.
Gold fiel es schwer, dem Geschehen zu folgen. Um ihnherum waren mit einemmal Menschen, die sich in verschiedenen Ecken zusammenscharten, um bruchstückhafte Informationen auszutauschen. Er konnte nicht begreifen, wer diese Menschen waren und welche Rolle sie spielten. Sie erfüllten das Haus mit einem hektischen Hin- und Hergelaufe, und es gelang ihnen, sich in wenigen Minuten alles anzueignen: Das Telefon, die Tische, die Sessel und selbst die Kaffeetassen – alles nahmen sie den Angehörigen des Instituts. In der Nacht, als Gold versuchte, die Ereignisse des Morgens in ihrer Reihenfolge zu rekonstruieren, erinnerte er sich, daß gleich nach dem Arzt ein Polizist gekommen war. Er erinnerte sich, wie der Polizist nach Hildesheimer und dem Arzt nun auch das kleine Zimmer betrat und auch daran, wie schnell er es wieder verließ. Der Polizist, dessen Dienstgrad er nicht registriert hatte, rannte – nicht aber ans Telefon, sondern hinaus. Gold, der hinter ihm auf die Veranda vor dem Eingang trat, vernahm Stimmen, die vom Streifenwagen kamen, in dem der Polizist mit einem Sprechfunkgerät in den Händen saß. Und auf der Straße, die noch immer völlig still lag, fielen Ausdrücke, die Gold bis dahin nur aus Kriminalfilmen kannte.
Der Polizist blieb bei dem Streifenwagen; Gold konnte die Stimmen hören, die aus dem Sprechfunkgerät kamen. Das Blaulicht auf dem Dach des Streifenwagens kam Gold
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