Denn die Gier wird euch verderben - Thriller
vielen Schnees auf den Gleisen haben sie Verspätung. Elina hat zwei Nächte im Zug verbracht, und ihr Gesäß schmerzt, weil sie im Sitzen schlafen musste, aber bald wird sie ihr Ziel erreicht haben.
Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie verschneiten Niederwald. Verschneite Moore und Seen. Rentierherden, die mit großen Augen ohne Angst den dröhnenden, stinkenden, qualmenden Zug anstarren. Ab und an müssen die Waggons abgekoppelt werden, die Lok muss zurücksetzen und sozusagen Anlauf nehmen, damit der Schneepflug vor der Lok den Schnee von den Gleisen räumen kann.
So viel Schnee und so viel Wald. Dass Schweden so riesig ist, das ist doch unfassbar. Sie war noch nie so weit im Norden. Und sie kennt auch niemanden, der so weit im Norden war.
Die Sonne brennt durch die Fensterscheibe. Sonnenflecken landen auf den mit Teppichboden eingefassten Sitzen und huschen über den grün- und blaugemusterten Plüsch. Das Licht ist so grell, dass sie die Augen kaum aufhalten kann, aber sie will die Vorhänge dennoch nicht zuziehen. Es ist doch alles so atemberaubend schön.
Sie ist frei. Sie ist gerade einundzwanzig geworden und ist unterwegs nach Kiruna! Der neuesten Stadt der Welt. Dorthin gehört sie. In die neue Zeit.
In nur wenigen Jahrzehnten hat Schweden sich aus seiner Armut erhoben. Erst seit kurzer Zeit lassen Impfstoffe, Frieden und Kartoffeln die Bevölkerung anwachsen. Explosionsartig. Diese vielen Armen. Seit sie nicht mehr einfach wegstarben, schleppten sie sich irgendwie weiter. Legten sich barfüßige Kinder mit hohlen Wangen zu. Und was sollte aus denen werden? Sollten die weiter Gräben ausheben oder sich als Melkmägde abplacken? Nein. Im vergangenen Jahrhundert hatte es keinen Platz für sie gegeben. Die Städte waren noch immer lächerlich klein. Die Menschen verließen Schweden. Die Jungen, die Starken und die Träumer gingen nach Amerika. Die Obrigkeit stand hilflos da, wie ein zur Ader gelassener Greis, und predigte Vaterlandsliebe und Genügsamkeit.
Der Aufstieg aus der Armut begann für die Ärmsten wie immer. Mit den Naturschätzen. Erz. Holz. Und dann, als sie in das 20. Jahrhundert eintraten, kam die daraus entstandene Industrie dazu. Erfindungen wurden patentiert. Aktiengesellschaften für alles und jedes wurden gegründet.
Jetzt werden die Leute in die Städte gelockt. Dort werden Zellulose, Telefone, Schusswaffen, Landwirtschaftsmaschinen, Schraubenschlüssel, Rohrzangen, Dynamit, Zündhölzer hergestellt. Das neue Schweden beginnt, reich zu werden.
Sie reckt und streckt sich und denkt, dass sie bald in den Speisewagen gehen muss. Sie muss sich ein wenig bewegen. Bald, ach, bald wird sie in Kiruna sein.
Allein, dass der ganze Ort Strom hat. Straßenlaternen und Haushaltslampen. Es gibt Badeanstalten und einen Musikpavillon und die Bibliothek.
Sie schaut auf den von der Sonne beschienenen Schnee hinaus und lächelt. Das Lächeln fühlt sich in ihrem Gesicht ungewohnt an. Sie berührt ihren Mund mit den Fingern und betastet dieses Lächeln. Erst jetzt, da sie das Dorf hinter sich zurücklässt, da sie Jönåker verlässt, begreift sie, dass sie zwei Jahre lang unglücklich war.
Es ist, wie aus einem bösen Traum zu erwachen und sich an dessen Handlung kaum erinnern zu können. Sie wird die Dorfschule vergessen. All die vielen grauen Kinder von Kätnern, Landarbeitern, Tagelöhnern, Knechten, Mägden und Pächtern. Solche, die wissen, dass sie niemals wieder etwas lernen werden, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen sechs Schuljahre zu Ende sind. Mit zwölf sind sie erwachsen und müssen sich selbst versorgen. Eltern und kleine Geschwister kann man nicht im Stich lassen. Etwas in ihnen ist erloschen. Das zeigt sich in ihren Augen. Wenn es regnet oder schneit, ist die Luft im Klassenzimmer dick vom Geruch ihrer Kleider, es riecht nach Stall, Schmutz und verschwitzter Wolle.
Und dann die Söhne der Großbauern. Die können machen, was sie wollen. Dick und wohlhabend, jetzt schon kleine Gutsherren, können sie ihren Klassenkameraden und der Lehrerin antun, was sie wollen, denn ihnen gehören das Dorf und die Wälder und die Felder. Die Lehrerin, die ihren Posten behalten will, hat diese Knaben gut zu behandeln. Und ihnen gute Noten zu geben, damit sie sich nicht um ihre Weihnachtsgratifikation bringt: ein Fass Roggen, einen Schinken und Würste und Futter für die eigene Kuh. Lachhaft, wenn sie an die Großbauern denkt.
Der Dorfpastor? Dem ist sie jetzt entronnen.
Soll er doch in
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