Denn niemand hört dein Rufen
Ihnen versichern, gibt es bei uns auch nicht.« Emily folgte Murphy in einen kleinen Raum, in dem lediglich ein angeschlagener Schreibtisch, zwei wackelig aussehende Stühle und ein Aktenschrank standen.
»Die Akte liegt auf dem Tisch. Lassen Sie sich Zeit. Wir können alles, was Sie wünschen, kopieren. Bin in einer Minute wieder zurück. Ich muss nur einige Anrufe tätigen.«
»Natürlich. Es wird nicht zu lange dauern, versprochen.«
Emily wusste nicht genau, wonach sie suchte. Sie kam sich wie der Richter in dem Pornografiefall vor, der meinte: »Ich kann es nicht näher beschreiben, aber ich erkenne es, wenn ich es vor mir habe.«
Sie überflog schnell die verschiedenen Berichte der einzelnen Polizisten, von denen sie bereits einige kannte, da sie sich in dem von Billy Tryon mitgebrachten Material befanden. Jamie Evans war frühmorgens überfallen, erwürgt und dann vom Joggingweg hinter dichte Sträucher geschleift worden. Ihre Uhr und die Ohrringe waren verschwunden. In ihrem Geldbeutel, den man im Gras neben ihr entdeckte, fehlten alles Bargeld und die Kreditkarten. Die Kreditkarten waren nie benutzt worden.
Natalie Raines hatte daraufhin der Polizei eine Beschreibung des Mannes geliefert, dessen Foto sie nur einmal in
Jamies Geldbeutel gesehen hatte. Laut ihrer Aussage hatte Jamie ihr anvertraut, dass dieser Mann, mit dem sie sich heimlich traf, verheiratet sei, aber versprochen habe, sich scheiden zu lassen. Natalie meinte, dieser Typ, den sie niemals gesehen hatte und dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, werde Jamie nur hinhalten.
Natalie war so sehr davon überzeugt, dass dieser mysteriöse Freund etwas mit Jamies Tod zu tun haben könnte, dass die Polizei sich dazu veranlasst sah, sie ins Büro des Bezirksstaatsanwalts zu laden, damit eine Phantomzeichnung angefertigt werden konnte.
Bislang also nichts Neues, dachte Emily. Das alles habe ich bereits gesehen. Doch als sie auf die Phantomzeichnung stieß, wurde ihr Mund schlagartig trocken. Die Zeichnung im Ordner, den Billy Tryon nach New Jersey gebracht hatte, war nicht die gleiche wie die hier in der New Yorker Akte.
Dieser Mann war attraktiv, etwa dreißig Jahre alt, hatte blaue Augen, eine gerade Nase, einen entschlossenen Mund und volles dunkelbraunes Haar.
Es war das Bild eines Mannes, der eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem jüngeren Billy Tryon aufwies. Wie betäubt starrte Emily es an. Auf das Blatt gekritzelt war die Notiz: »Möglicherweise unter dem Spitznamen ›Jess‹ bekannt.«
Steve Murphy kam zurück. »Irgendetwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«
Emily versuchte sich zu beherrschen, während sie auf die Zeichnung deutete. »Ich sage es nur ungern, aber irgendwie muss in den Akten etwas durcheinandergeraten sein. Das ist nicht die Zeichnung in meiner Akte. Das Original des Phantomzeichners muss sich doch noch sicherlich irgendwo finden lassen.«
»Klar. Sie kennen das ja. Die Zeichnung wird angefertigt, dann werden Kopien erstellt. Wir können das mit dem Original vergleichen. Kein Problem. Aber ich muss Ihnen sagen, ich denke, dass da was in den Akten in Ihrem Büro durcheinandergeraten sein muss. Ich habe damals bereits hier gearbeitet, als das Mädchen umgebracht wurde. Das ist meiner Erinnerung nach definitiv die Zeichnung in dieser Akte. Soll ich noch etwas für Sie kopieren?«
»Die gesamte Akte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Murphy sah sie an. »Sind Sie auf etwas gestoßen, das dazu beitragen könnte, den Fall zu lösen?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte Emily. Als sie darauf wartete, dass die Unterlagen kopiert wurden, fragte sie sich jedoch, was sich noch in der Evans-Akte befand, das Billy nicht mitgebracht hatte. War Billy möglicherweise der mysteriöse Freund, von dem Natalie annahm, er habe ihre Freundin umgebracht? War Billy Tryon jemals Natalie Raines begegnet?
Und wenn dem so war, hatte er dann deshalb Jimmy Eastons Geschichte konstruiert und Gregg Aldrich als Natalies Mörder verurteilen lassen?
Langsam ergibt alles einen Sinn, überlegte Emily.
Es ist vielleicht kein schönes Bild, aber die Einzelteile fügen sich allmählich zu einem Ganzen zusammen.
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W o konnte er sich besser verstecken als bei sich zu Hause?
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam Zach am Dienstagmorgen die rettende Idee. Er kannte die Vorgehensweise der Polizei, die das Haus gestürmt haben dürfte. Er sah sie vor sich, die Waffen im Anschlag, wie sie sich, um ihr Leben fürchtend, von Zimmer zu
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