Denn niemand hört dein Rufen
muss mich von Ihnen nicht belehren lassen.« Er sah ihr in die Augen. »Und denken Sie immer daran, dass ich schon in diesem Büro gearbeitet habe, als Sie noch die Schulbank gedrückt haben.«
Gleich nachdem Tryon gegangen war, kam Rosen mit Alice Mills herein. Schon auf den ersten Blick fiel Emily auf, wie sehr sich der Kummer in das Gesicht der älteren Frau gegraben hatte, dazu das leichte Zittern ihres Kopfes und die Tatsache, dass der Hosenanzug, den sie trug, viel zu weit für sie erschien. Noch im Stehen stellte sich Emily vor,
drückte ihr Beileid aus und bat sie, sich zu setzen. Als sie sich ebenfalls wieder gesetzt hatte, erklärte Emily ihr, dass sie die Anklage vor Gericht vertreten und sich nach bestem Vermögen bemühen werde, einen Schuldspruch für Gregg Aldrich und damit auch Gerechtigkeit für Natalie zu erreichen.
»Und bitte nennen Sie mich einfach Emily«, sagte sie zum Schluss.
»Ich danke Ihnen«, sagte Alice Mills leise. »Ich muss sagen, dass die Leute aus Ihrem Büro sehr freundlich gewesen sind. Ich wünschte nur, sie könnten mir meine Tochter zurückbringen.«
Das Bild von Mark, als er sich zum letzten Mal von ihr verabschiedet hatte, blitzte in Emilys Erinnerung auf. »Ich wünschte auch, ich könnte sie Ihnen zurückbringen«, antwortete Emily und hoffte, dass man ihr den Kloß im Hals nicht anhörte.
In der folgenden Stunde nahm sich Emily viel Zeit, um im Ton eines vertrauten Gesprächs die Aussagen noch einmal durchzugehen, die Mills zwei Jahre zuvor gemacht hatte. Zu ihrem Erstaunen wurde ziemlich bald deutlich, dass Natalies Mutter bei der Frage, ob Gregg Aldrich das Verbrechen begangen haben könnte, immer noch hin und her gerissen war. »Eastons Aussage hat mich zunächst völlig verwirrt, gleichzeitig war ich aber auch erleichtert, dass jetzt wenigstens die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Je mehr ich aber über diesen Easton erfahre, desto mehr befallen mich wieder Zweifel.«
Wenn die Geschworenen auch so denken, ist die Sache geplatzt, dachte Emily und ging zum nächsten Punkt über, den sie besprechen wollte. »Mrs Mills, Natalies einstige Mitbewohnerin Jamie Evans wurde vor vielen Jahren im
Central Park umgebracht. Soweit ich weiß, hat Natalie geglaubt, dass möglicherweise der mysteriöse Mann, mit dem sie befreundet war, der Täter gewesen sein könnte?«
»Jamie und Natalie, beide tot«, murmelte Alice Mills kopfschüttelnd und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. »Und beide ermordet … Wer hätte sich jemals eine so entsetzliche Tragödie vorstellen können?« Sie tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab und fuhr dann fort. »Natalie hat sich geirrt«, sagte sie. »Sie hat das Bild dieses Mannes ein einziges Mal gesehen, und das war mindestens einen Monat, bevor Jamie umgebracht wurde. Jamie hätte es in der Zwischenzeit genauso gut selbst aus ihrem Geldbeutel entfernen können. Ich glaube, Natalies Reaktion war ein bisschen vergleichbar mit dem, was ich selbst jetzt empfinde. Sie und Jamie waren sehr eng befreundet. Sie hatte das Bedürfnis, einen Schuldigen zu benennen, jemanden für ihren Tod büßen zu lassen.«
»So wie Sie Gregg Aldrich büßen lassen möchten?«, fragte Emily.
»Ich möchte, dass ihr Mörder für seine Tat büßt, wer auch immer es ist.«
Emily wandte den Blick von dem schmerzverzerrten Gesicht der ihr gegenübersitzenden Frau ab. Dies war der Teil ihres Berufs, den sie am meisten fürchtete. Das Mitgefühl mit den leidenden Familien der Opfer war es, das sie immer wieder dazu antrieb, ihre Sache so gut wie möglich vor Gericht zu vertreten. Doch aus irgendeinem Grund wurde sie an diesem Tag stärker als sonst von dem großen Kummer erschüttert, dessen sie Zeugin wurde. Sie wusste, dass jeder Versuch zwecklos war, diesen Schmerz einer Mutter mit Worten zu beschwichtigen.
Aber ich kann ihr helfen, indem ich nicht nur den Geschworenen,
sondern auch ihr beweise, dass Gregg Aldrich schuld an Natalies Tod ist und die härteste Strafe verdient, die ein Richter verhängen kann: lebenslängliche Haft.
Dann tat sie etwas, das sie selbst in Erstaunen versetzte. Als Alice Mills sich erhob, um zu gehen, stand Emily auf, eilte um den Tisch und umarmte die untröstliche Mutter.
9
M ichael Gordons Schreibtisch in seinem Büro im dreißigsten Stock des Rockefeller Center war überhäuft mit Zeitungen aus allen Teilen des Landes, kein ungewöhnlicher Anblick am Morgen eines Arbeitstags. Vor Tagesende würde er sie alle nach interessanten
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