Erben des Blutes: Verborgene Träume (German Edition)
1
Tipton, Massachusetts
In einer Nacht, in der am Himmel der noch zarte Bogen des aufgehenden Monds zu sehen war, zu einem Zeitpunkt, als selbst die abenteuerlustigsten Menschen ins Bett gefallen und in Schlaf gesunken waren, strich einsam ein Kater über den Platz in der Stadtmitte. Er war groß, so groß wie ein Rotfuchs. Sein glattes pechschwarzes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen, und er bewegte sich rasch und geschmeidig, wenn auch ohne Ziel. Der Blick seiner wie blaue Glut funkelnden Augen war stur auf den Weg vor ihm gerichtet. Der Kater hatte in seinem langen Leben schon die unterschiedlichsten Namen gehabt. Seit mehr als einem Jahrhundert hieß er jetzt schlicht nur noch Jaden oder – noch schlichter – »Katze«. Wenn nötig, hörte er auf beides; aber weder auf das eine noch das andere, wenn er damit durchkommen konnte.
An diesem Abend, in der verführerischen Stille der Nacht, hörte Jaden nur auf sich selbst.
Langsam strich er durch die Stadt und genoss die Ruhe und die gesegnete Abwesenheit menschlicher Wesen mit all ihren Geräuschen, Gefühlen und Komplikationen. Vor dem dunklen Fenster eines Schönheitssalons blieb er stehen und ließ den Blick über das Schild wandern, auf dem HOCH ERFREUT stand. Er hob den Kopf und schnüffelte. Die Luft war feucht, und es roch nach Regen. Jaden spürte, dass der Sommer bald auch in diese Ecke Neuenglands kommen würde, aber er wusste auch, dass Anfang Mai immer noch mit Nachtfrost zu rechnen war, der den frischen Trieben seinen tödlichen Kuss gab.
Tödliche Küsse
, dachte Jaden und peitschte mit dem Schwanz über den Boden. Ja, mit denen kannte er sich aus. Wenn man ein Vampir war, noch dazu ein niederer Katzengestaltwandler, gehörten tödliche Küsse quasi zum Alltag.
Verdammt. Eigentlich hatte er diesen spätnächtlichen Spaziergang doch unternommen, um den Kopf freizubekommen.
Die Verwandlung ging so einfach vonstatten wie Atmen. Es dauerte keine Sekunde, schon stand Jaden auf zwei statt auf vier Beinen. Seine Kleidung war auf magische Art wie immer tadellos, was er nie ganz verstanden, aber immer zu schätzen gewusst hatte. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und ging weiter die Straße entlang, den Blick auf den Boden gerichtet. Jahrelang hatte er im Geheimen seine Wut gegen die Ptolemy genährt, seine adeligen Meister, die mit »Haustieren« wie ihm ziemlich gnadenlos umgegangen waren; doch in letzter Zeit schien sich seine ganze Wut ausschließlich gegen sich selbst zu richten.
Jaden hatte jetzt, was er sich vermeintlich immer gewünscht hatte: Freunde, ein Zuhause und, wichtiger noch, seine Freiheit. Die Ptolemy gab es noch immer, aber zurzeit waren sie ziemlich eingeschüchtert. Seinem Geschlecht dagegen, den so oft geschmähten Cait Sith, war eine unglaubliche Ehre zuteil geworden. Sie durften eine Adelsdynastie neu mitbegründen, die vor vielen Jahrhunderten ausgestorben war, jetzt aber in Gestalt einer einzigen menschlichen Frau, in deren Adern das Blut dieser Dynastie floss, wiederauferstanden war.
Die sieben Monate, in denen Jaden dieser Frau, Lily, geholfen hatte, sich gegen die Ptolemy zu behaupten, waren wie im Flug vergangen. Noch nicht so lange war es dagegen her, dass der Rat der Vampire Lilys Plan, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatte, und erst seit diesem Tag war Jaden wirklich und wahrhaftig frei. Ob Lilys Entscheidung klug war, hätte Jaden nicht sagen können – die Cait Sith waren ein nur schwer zu bändigender Haufen.
Aber er war dankbar, genau wie die anderen Cait Sith, und das war nicht zu unterschätzen.
Jaden rieb über sein Schlüsselbein, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dort, unter mehreren Schichten Kleidung, befand sich sein Mal, das Symbol seiner Dynastie. Bis vor Kurzem war dieses Mal ein Knäuel ineinander verschlungener Katzen gewesen. Aber ein Schluck von Lilys kraftvollem Blut hatte gereicht, es zu verändern. Jetzt stellte es auch das Pentagramm und die Schlange der Lilim dar. Zusammen mit diesem Mal hatte er neue Fähigkeiten erhalten, die er noch ausprobierte, und eine neue Rolle in einer Welt, in der man ihn sonst stets übersehen hatte. Jaden wusste, dass ihn das eigentlich fröhlich stimmen sollte. Zum ersten Mal in seinem langen Leben war er kein Paria mehr. Er war sein eigener Herr. Was wollte er mehr? Und dennoch …
In ihm war eine Leere, die wie eine offene Wunde schmerzte. Irgendetwas fehlte. Wenn er nur gewusst hätte, was.
Eine sanfte Brise strich durch sein
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