Denn Wahrheit musst du suchen
Großmutter sei tot. Da wollte sie sich nun auf keinen Fall etwas entgehen lassen.
»Zucker?«, fragte Lucinda munter und ließ ihre Hand über der zartwandigen Dose schweben.
Allie schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach ihrer Tasse aus. »Nein danke«, fügte sie dann hastig hinzu, um nicht unhöflich zu erscheinen.
Ein Lächeln umspielte Lucindas Lippen. Sie stellte die Tasse auf die dazugehörige Untertasse und reichte sie Allie. »Du erinnerst mich sehr an deine Mutter, als sie so alt war wie du jetzt. Sie hat auch immer erst in allerletzter Sekunde ›Danke‹ gesagt. Bei ihr musste auch immer alles ganz schnell gehen.«
Allie konnte sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Lucinda Meldrum – ehemalige britische Schatzkanzlerin, renommierte Beraterin von Spitzenpolitikern in aller Welt und jedermann aus Funk und Fernsehen bekannt – die Mutter ihrer Mutter war. Dass sie überhaupt je der gleichen Familie angehört hatten.
Allies Mutter war nach ihrem Abschluss in Cimmeria von zu Hause weggelaufen und hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie hatte Reichtum und Macht zugunsten eines normalen Lebens ausgeschlagen und ihre Familiengeschichte vor ihren Kindern verheimlicht. Erst als sie selbst nach Cimmeria gekommen war, hatte Allie das alles herausgefunden.
Sie führte die Tasse an ihre Lippen und atmete den zitronigen Bergamotte-Duft ein.
»Nun gut«, sagte Lucinda. Sie stellte die Teekanne ab und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Dann wollen wir uns mal unterhalten.«
Aus der Nähe bemerkte Allie die feinen Fältchen um Lucindas Augenpartie – wie Lachfältchen sahen sie nicht aus. So mächtig wie Lucinda wurde man nur, wenn man ein Rückgrat aus Stahl hatte.
»Die Lage ist ziemlich ernst, Allie«, begann Lucinda. »Ich habe nicht viel Zeit, aber ich finde es wichtig, dass du genau im Bilde darüber bist, worum es geht. Du bist nämlich in sehr großer Gefahr. Deshalb möchte ich, dass du vorbereitet bist – was auch immer passiert.«
»Viele von den Eltern wollen ihre Kinder von der Schule nehmen, stimmt’s?«
Lucinda nickte. »Das ist jedenfalls Nathaniels Plan. Danach wird er den Aufsichtsrat auffordern, mir das Vertrauen zu entziehen, seine Unterstützer werden Farbe bekennen, sie wählen mich ab und übernehmen die Schule und die ganze Organisation. Ich werde nichts dagegen tun können, und er kann ungehindert die ganze Macht an sich reißen – wodurch, fürchte ich, mehr als nur Cimmeria Schaden nehmen wird.«
Äußerlich gelassen beschrieb Lucinda, wie man sie vernichten würde – so emotionslos, als berichtete sie von einem Geschäftstermin.
»Manche von den Schülern wollen aber nicht gehen«, sagte Allie und reckte stolz das Kinn. »Und wir wollen ihnen dabei helfen, zu bleiben.«
Mit einem kleinen Silberlöffel rührte Lucinda in ihrer Teetasse. »Die Lage ist vertrackt. Die Absicht, sich zu widersetzen und hierzubleiben, wäre zwar sehr mutig, aber ich fürchte, ihre Eltern werden einen Weg finden, sie zu holen. Die haben hervorragende Anwälte, und ihre Kinder sind noch minderjährig. Nathaniel ist sehr listenreich.«
»Die können sie doch nicht zwingen zu gehen, wenn sie das nicht wollen«, erklärte Allie, die nicht damit gerechnet hatte, dass Lucinda etwas gegen ihren Plan einzuwenden haben könnte. »Die können ja wohl selber entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.«
»Nein, das können sie eben erst mit achtzehn«, entgegnete Lucinda. »Ich sage ja nicht, dass sie es nicht versuchen sollten. Nur … sprich erst mit Isabelle darüber. Sie sollte in eure Pläne eingeweiht sein. Sie kann euch helfen.«
»Ach ja?«, begehrte Allie auf. »Die war doch die ganze Zeit nicht da. Wir waren völlig auf uns allein gestellt.«
»Sie war ja nie richtig weg. Du hättest nur nach ihr fragen müssen, und sie wäre zur Stelle gewesen«, widersprach Lucinda mit sanftem Tadel in der Stimme. »Gleichwohl spricht es in jedem Fall sehr für euch, dass ihr die Initiative ergriffen und auf eigene Faust gehandelt habt. Genau deshalb wurdet ihr ja für die Night School ausgewählt. Alles andere hätte mich auch enttäuscht.«
Allie war überrascht, wie stolz ihre Worte sie machten – ihr war gar nicht klar gewesen, dass Lucindas Lob so wichtig für sie war.
»Das Problem ist nur, dass uns Nathaniel mit seinem raffinierten Plan ganz schön in die Bredouille gebracht hat. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand«, musste Lucinda zugeben. »Uns bleiben
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