Denn Wahrheit musst du suchen
schwer wie ein Betonklotz, als wäre es glühend heiß. Sie war sich sicher, dass die anderen es durch den dicken, blauen Stoff ihres Rocks erkennen konnten.
Oben auf dem Treppenabsatz schob sie sich durch Massen von plappernden und lachenden Schülern auf die schmalere Treppe zum Mädchentrakt zu. Damit ihr schuldbewusster Blick sie nicht verriet, sah sie die ganze Zeit nicht ein Mal auf.
»Die hat ’ne Klatsche«, sagte jemand hinter ihr, leise und höhnisch. Der kristallklare Akzent klang unangenehm vertraut.
Allie schaute nicht auf, das brauchte sie auch nicht – Katie Gilmores Stimme hätte sie immer und überall erkannt.
»Macht Platz, oder ihr seid als Nächste dran«, sagte eine andere, und die Mädchen lachten.
Allie kämpfte gegen den Wunsch an, Katie zu ohrfeigen, blickte weiter starr zu Boden und zählte leise ihre Schritte. Mit jeder neuen Zahl wurde sie ruhiger.
… fünfundfünfzig, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neu…
»Allie!«
Ein Paar weiche, cremefarbene Schaflederstiefel hatten sich ihr in den Weg gestellt, und Allie blieb abrupt stehen.
Langsam hob sie den Blick. Vor ihr stand Jules, die Vertrauensschülerin für den Mädchentrakt mit dem rasiermessergerade geschnittenen, weißblonden Pony, der bis zur Schulter reichte, und versperrte ihr den Weg. »Isabelle hat mich beauftragt, dich zu suchen«, sagte sie und verschränkte missbilligend die Arme vor dem Körper.
Allies Herzschlag setzte kurz aus. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zur Rocktasche und umklammerte das gestohlene Handy.
Wie kann sie das schon wissen?
Doch trotz des Adrenalins, das ihr durch die Adern schoss, kam ihre Antwort eigenartig ruhig: »Was will sie denn?«
Jules sah sie befremdet an, als hätte sie diese Frage nicht erwartet. »Das weiß ich nicht. Sie hat nur gesagt, dass sie dich sucht und dass ich dich zu ihr ins Büro schicken soll, falls ich dich sehe.«
Allie fiel ein Stein vom Herzen.
Isabelle weiß nichts von dem Handy. Noch nicht.
Diese Erkenntnis machte sie kühner. »Okay, du hast deine Botschaft überbracht, Jules, du kannst gehen.« Sie machte einen Schritt auf die Vertrauensschülerin zu. »Wartet nicht dein
Freund
schon auf dich oder so? Solltest du nicht bei dem sein?«
Jules zuckte mit keiner Wimper, doch von ihrem Nacken aus breitete sich die Röte übers ganze Gesicht aus.
Seit dem Winterball waren Jules und Carter zusammen, sie und Allies Exfreund waren
das
Cimmeria-Power-Paar. Allie hatte sich daran gewöhnt, sie auf den Fluren herumspazieren zu sehen, wenn Carter den Arm locker um Jules’ Schulter gelegt hatte; sein dunkles Haar kontrastierte auffällig mit ihrem Blondschopf. Wie Schachfiguren – der schwarze König mit der weißen Dame.
Es drehte ihr immer noch den Magen um, wenn sie die beiden sah.
»Ich will mich nicht mit dir rumstreiten, Allie«, sagte Jules gelassen.
»Prima. Okay, ich geh nur schnell auf mein Zimmer, dann laufe ich gleich zu ihr runter wie es sich für ein braves kleines Mädchen gehört.« Allie wusste selbst, dass es kindisch war, gehässig zu Jules zu sein, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Sie wollte sie provozieren – sie sehnte sich nach einem Schreiduell. Oder nach einer Schlägerei.
Doch den Gefallen tat Jules ihr nicht, und Allie schob sich schnell an ihr vorbei und ging auf ihr Zimmer, wo sie die Tür hinter sich zuknallte. Sie hatte nicht viel Zeit. Isabelle würde sicherlich bald merken, dass ihr Handy weg war, und bestimmt nicht lange überlegen müssen, wer es gestohlen haben könnte.
Allies Zimmer war ein einziges Chaos. Schmutzige Kleidungsstücke lagen über den Boden verstreut, zusammen mit Papieren, Bettzeug und anderem Kram. Als sie damals die Krankenstation hatte verlassen dürfen, hatte Allie sich verbeten, dass in ihrem Zimmer sauber gemacht wurde, und die Rektorin hatte widerwillig zugestimmt. Jetzt sah es hier aus wie auf einer Müllhalde.
Genau nach Allies Geschmack.
Sie zog den Rock und die bequemen, schuleigenen Schuhe aus und schlüpfte in eine enge, schwarze Jeans. In den Wochen nach Jos Tod hatte Allie abgenommen, die Hose schlackerte ein bisschen, aber es ging. Sie zog die Reißverschlüsse der kniehohen roten Doc Martens hoch, schnappte sich eine dunkle Jacke von der Garderobe und kramte in dem Krempel auf dem Boden nach ihrem Schal. Während sie noch mit ihrer Jacke kämpfte, wählte sie schon die vertraute Nummer.
»Ja!?«, antwortete eine aggressive Stimme in breitem Londoner
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