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Denn wer zuletzt stirbt

Denn wer zuletzt stirbt

Titel: Denn wer zuletzt stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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darum kümmern, sie muß eventuell vom Gerichtsmediziner seziert werden.
    »Was meinst du, sollen wir ›natürlicher Tod‹ ankreuzen?« fragte Schreiber.
    »Wie wäre es mit ›Tod bei medizinischer Behandlung?‹«
    Sofort bereute ich meinen kleinen Scherz. Schreiber war müde und sah ziemlich schlecht aus. Posttraumatischer Streß. Er würde sich daran gewöhnen müssen.
    »Ich war sicher, ich hatte alles unter Kontrolle. Er hatte kaum noch einen Druck, als wir in diese Pension kamen, und einen vernünftigen Rhythmus hatte er auch nicht. Aber es lief wirklich gut. Eine schnelle, saubere Subklavia, eine saubere Jugularis für den Schrittmacher, keine Fehlpunktion, keine Ösophagus-Intubation. Wir hatten ihn ziemlich stabil, als wir abfuhren.«
    »Ich glaube, er hatte keine Chance, Schreiber. Niemand hätte ihn lebend bis hierher bringen können. Du nicht, ich nicht, der Papst nicht. Du hast deine Sache gut gemacht, mach dir keine Vorwürfe.«
    Wir nahmen unseren Kaffee mit zurück in den Untersuchungsraum, in dem Mischa auf seinen Transport in die Pathologie wartete. Früher bekamen die Leichen so einen Kofferanhänger an die Zehen gebunden, und irgendwie machten diese Anhänger den Eben-noch-Menschen endgültig zu einem Ding. Inzwischen gibt es spezielle Armbänder, und Mischa war schon mit seinem Armband versorgt: »Tschenkow, Mischa, 20. April 1971.« Diese Schwesternschicht war wirklich fleißig.
    »Weißt du, Schreiber, der war mal Patient bei mir.«
    Mischa schien uns aus seinen gelben Augen anzuschauen – etwas apathisch vielleicht, aber doch, als höre er gespannt zu, warum er sterben mußte.
    »Er war mal dein Patient? Weshalb?«
    »Wir haben damals nichts Ernsthaftes gefunden. Deshalb würde es mich schon sehr interessieren, woran er jetzt sterben mußte. Ich denke, wir machen ›Todesursache ungeklärt‹. Dann bekommen wir es schön ausführlich, und andere haben auch was zu tun.«
    Durch die dünne Wand des Untersuchungszimmers drang das typische Husten und Würgen zu uns – die Achtzehnjährige würde sich wenigstens für ein paar Wochen an ihre Magenspülung erinnern. Und ich mußte mich langsam um die Lebenden kümmern.
    »Hast du Mischa schon das Blut für die Studie abgenommen, Schreiber?«
    Hatte er. Schließlich sind wir ein akademisches Lehrkrankenhaus, und ein Teil unserer Existenzberechtigung besteht in der Durchführung von Studien, für Wissenschaft und für Industrie. In der Studie, für die wir Mischas Blut brauchten, wurde von allen Patienten im Notarztwagen eine Blutprobe genommen, zentrifugiert und eingefroren. Später würden fleißige Doktoranden daraus verschiedenste Laborwerte bestimmen und zu den Daten des Notarztwagen-Protokolls und zum weiteren Schicksal dieses Patienten korrelieren. Eine typische Erbsenzählstudie mit vorhersagbarem Ergebnis: Wir würden finden, daß kranke Patienten mit kaum mehr meßbarem Blutdruck und zum Beispiel hoher Atemfrequenz hochsignifikant häufiger dieses Krankenhaus nicht lebend verlassen als gesunde Leute mit gutem Blutdruck und normaler Atmung. In einem akademischen Lehrkrankenhaus muß man schon mindestens eine Studie pro Jahr abliefern. Wir konnten nichts mehr für Mischa tun, aber mit einer kleinen Blutprobe konnte Mischa noch was für mich beziehungsweise für meine Karriere tun.
    Schreiber starrte weiter auf den Leichenschauschein, er hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Stelle »Eintritt des Todes Feststellung des Todes - Tag, Monat, Jahr, Uhrzeit«.
    »Schreiber, gib mir den Schein.« Er schaute mich fragend an. »Paß auf, Doktor. Der Mann ist hier gestorben. Du hast ihn lebend bis hierher gebracht.« Schreiber seufzte erleichtert. »Aber du kannst dich revanchieren. Sei so nett, und jag seine Blutprobe noch eben durch die Zentrifuge, und stell es in die Tiefkühltruhe. Dann wird es Zeit, daß du dich wieder einsatzbereit meldest. Berlin braucht dich, das Leben geht weiter!«
    Also füllte ich den Leichenschauschein aus und unterschrieb ihn. Als Todeszeit trug ich »19 Uhr 10« ein, fünf Minuten nach Einlieferung in die Klinik. Daß ich damit fast meinen eigenen Leichenschauschein unterschrieben hatte, jedenfalls ein Freilos für eine Menge Ärger, davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nichts. Und, wie das so mit Ärger ist, man hat ihn sich meistens selbst zuzuschreiben.

2

    In der Nacht kam dann die übliche Mischung von Kranken, Hypochondern und Leuten, die für morgen früh einen Flug nach Asien, in die Karibik oder wer weiß

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