Denn wer zuletzt stirbt
wohin gebucht hatten und sich eben noch einmal unverbindlich über ihren Gesundheitszustand informieren wollten oder bitte pronto gegen Typhus, Pest und Cholera geimpft zu werden wünschten. Wirklich Kranke sind das kleinste Nachtdienstproblem, man stellt eine Diagnose und beginnt die Behandlung, oder man stellt eine andere Diagnose und verlegt sie in die zuständige Abteilung. Hingelegt hatte ich mich auch ein paarmal, aber immer nur so lange, um nicht zu vergessen, wie schön es eigentlich ist, in der Nacht im Bett zu liegen.
Beim Frühstück traf ich Heinz Valenta von der Intensivstation und Hartmut von der Chirurgie in unserer gemütlichen Krankenhaus-Cafeteria, einer gelungenen Kreuzung aus DDR-Restaurant und Autobahnraststätte. Wie die beiden graublaß und übermüdet an ihren belegten Brötchen nagten und dazu ihren Kaffee schlurften, bekam ich einen guten Eindruck von meinem aktuellen Aussehen. (Ich mache schon lange nicht mehr den Fehler, nach einem Nachtdienst in den Spiegel zu sehen - wie sollte ich mich dann noch zu meinen Patienten trauen?) Im Frühstücksfernsehen liefen Bilder von weit über die afrikanische Hochebene verstreuten Flugzeugteilen, es hatte einen Airbus kurz nach dem Start erwischt. Unsere kleinen Erfolgsgeschichten aus der vergangenen Nacht erschienen uns plötzlich recht relativ.
Wir mußten uns beeilen mit unseren leckeren Cafeteria-Brötchen, die seit der Privatisierung unserer Krankenhausküche, jetzt als »Hospital Catering Service« firmierend, auch nicht frischer geworden waren. Frühstück nach dem Nachtdienst ist im Dienstplan nicht vorgesehen, da um diese Zeit die Bettenkonferenz läuft. Vorher sollte man das Blutabnehmen auf der Station erledigt haben, um die Laborwerte möglichst früh zu bekommen, und den Rausschmiß der mehr oder weniger gesundeten Patienten, um Platz für neue zu schaffen. Die morgendliche Bettenkonferenz zu schwänzen ist ein schwerer taktischer Fehler, hier werden die neuen Patienten auf die Stationen verteilt, und dabei wird geschachert wie auf einem orientalischen Basar.
Als ich mit Heinz Valenta in den Besprechungsraum der Inneren Abteilung gehetzt kam, mit dem Nachgeschmack von hartgekochten Eiern im Mund und einem neuen Kaffeefleck auf dem Kittel, war das Feilschen schon voll im Gang. Ich hatte in der Nacht noch zwei ältere Patienten mit Schlaganfall aufgenommen, und jetzt mußte die Tagschicht der Aufnahmestation die beiden irgendwie loswerden.
»Bringt mir bloß keinen Schlaganfall mit!« Diese Mahnung wird den Stationsärzten jeden Morgen erneut von ihrer Stationsschwester auf die Bettenkonferenz mitgegeben, und sie ist verständlich. Viel Arbeit für ohnehin überlastete Schwestern, und nur selten, wenn überhaupt, kleine Erfolge. Es traf wie immer die Stationen, die nur durch ihren AIPIer, ihren Arzt-im-Praktikum, vertreten waren, weil der Stationsarzt lieber mit seinen Schwestern Kaffee trank.
Die Bettenkonferenz hieß ursprünglich Morgenkonferenz und war gedacht, um Problemfälle auf den Stationen oder aus den Nachtdiensten zu diskutieren. Aus diesem historischen Grund nahm fast immer das gesamte Zentralkomitee teil: die Chefärzte unserer drei Inneren Abteilungen und Professor Dohmke, der Herr über ein vollautomatisiertes – und inzwischen auch privatisiertes – Labor und gegenwärtig ärztlicher Leiter der Klinik.
Die Herren Chefärzte und Professor Dohmke hatten seit Jahren keinen Nachtdienst mehr gemacht. Vorzüglich ausgeschlafen, waren sie schon morgens voller guter Ratschläge. Deshalb haben die Doktors nach einem Nachtdienst wenig Lust, von ihren kleinen und großen Kämpfen gegen eigene Unwissenheit, Uneinsichtigkeit von Patienten oder technische Unzulänglichkeiten zu berichten und sich die klugen Kommentare des Zentralkomitees anzuhören. Glaubte man den eintönigen Kurzberichten der Nachtdiensthabenden, schien in unserem Besten-aller-Krankenhäuser jede Nacht himmlische Ruhe zu herrschen.
»Und wer hatte Aufnahmedienst?«
Ich war eingedöst, die Runde der Berichte aus der Nacht wurde traditionell vom Diensthabenden der Aufnahmestation abgeschlossen.
»Nichts Besonderes auf der Aufnahmestation«, meldete ich mich etwas verspätet zu Wort. »Wir hatten einen Todesfall. Ein Russe aus der CareClean-Putzkolonne, der letzten Oktober Patient bei uns war. Sah aus wie akutes Leberversagen. Er wird seziert.«
»So, so, ein Russe.«
Das war einer der bekannten tiefgründigen Kommentare von Professor Kindel, Chefarzt der
Weitere Kostenlose Bücher