Depeche Mode
zu heulen, und ich denke – die Armeeabgänger, die orangeroten Männer, die nassen Bäume und kalten Ströme – alles eigentlich nichts Besonderes, normale Männer, normale Armeeabgänger, normale Ströme, gleichzeitig aber sitze ich jetzt hier – auf diesem Bahnhof, neben einem mir unbekannten Invaliden, lausche seinem im Prinzip beschissenen Retro, aber irgendwie stimmt das alles, genau so muß es sein, und wenn man die Ströme wegnähme oder die orangeroten Männer, dann würde alles sofort zerfallen, nur durch die große logische Einheit von tausend unnötigen, abnormalen und schizophrenen Sachen entstehen Freude und Ausgeglichenheit, wenn die Dinge verschmelzen, kriegst du endlich eine Gesamtvorstellung davon, was Glück ist, was das Leben und – vor allem – der Tod.
Epilog Nr. 1
10.45
Eine Streife kommt aus dem Bahnhof, ihr Blick schweift bedeutungsschwanger über das Gelände und bleibt an dem Invaliden hängen. Sie nähern sich dem Mann, verhandeln was mit ihm, und der Invalide lächelt sie genauso leer an wie vor 45 Minuten uns, sie bedrängen ihn von zwei Seiten, dann hält es einer von ihnen, offensichtlich der dienstältere, nicht mehr aus und tritt mit der Stiefelspitze gegen das Grammophon, das zur Seite fliegt und theatralisch verstummt.
– Wir hätten ihn mitnehmen sollen, den Invaliden, – sage ich zu Wasja.
– Wohin – ins Lager? Sind doch alles Einheimische hier, die werden sich schon vertragen.
– Was heißt hier vertragen? – sage ich. – Schau hin, was die Arschlöcher mit dem Apparat gemacht haben.
Wir sitzen schon im Zug, der gleich abfährt, und sehen zu, wie der Invalide versucht aufzustehen und das Gekröse seines Grammophons zusammenkratzen will. Aber einer der Bullen, offensichtlich der dienstjüngere, hechtet zu dem ruinierten Apparat und donnert noch mal mit dem Fuß dagegen, wovon sich das Grammophon erneut zu einem schwerfälligen Flug in die Luft erhebt und direkt neben der Bahnhofstür landet.
– Bin gleich wieder da, – sagt Dog plötzlich.
– Moment, – ich versuche, ihn zurückzuhalten. – Wohin?
– Bleib, Dog, – schreit Wasja. – Wir fahren schon.
– Fahrt ohne mich, – schreit er zurück und steigt aus.
– Was hat er?
– Keine Ahnung, – sagt Wasja. – Vielleicht ist ihm schlecht geworden.
– Laß uns auch aussteigen und warten, – schlage ich vor.
– Was heißt hier warten? Und Zündkerze? Scheiß auf ihn – soll ruhig hierbleiben. Auf dem Rückweg sammeln wir ihn wieder ein.
10.47
Der Zug fährt ruckartig an und transportiert uns weiter nach Osten, wir sehen aber noch, wie unser Freund, der Jude Dog Pawlow, an einen der Bullen herantritt, an den, der dienstälter ist, ihn zu sich dreht und ihm voll eins in die Wachtmeisterfresse gibt, so daß seine Mütze zu Boden geht, auch der Wachtmeister geht zu Boden, aber – auch das können wir sehen – der andere, dienstjüngere, eilt ihm zu Hilfe, und aus dem Bahnhof selbst kommen noch zwei oder sogar drei dieser uniformierten Scheißkerle gerannt – wir können sie gerade noch zählen, mehr aber auch nicht. Der Zug entfernt sich, los, schreie ich Wasja Kommunist zu, zieh die Notbremse, bist du bescheuert? fragt Wasja, was für eine Notbremse, das ist nur ein Nahverkehrszug, aus, sagt er, wir fahren.
10.51
Erst prügeln sie Dog direkt auf dem Bahnsteig, nach und nach versammelt sich eine Menge Schaulustiger, dem Invaliden gelingt es, sich mit den Resten seines Retro-Apparats davonzumachen, dann zerren die Bullen den ohnmächtigen Dog in ihren Stützpunkt, ketten ihn mit Handschellen an eine Bank, schütten ihm einen Eimer Wasser über den Kopf und prügeln weiter, obwohl das wenig Sinn mehr hat – für Dog jedenfalls nicht. Als er, wieder ohnmächtig, auf dem nassen Fußboden liegt, winden sich aus seiner Gurgel zwei erschöpfte Forellen, schlagen mit den Schwänzen auf den Zementboden, springen unter die Bank und lassen ihre kaputten Schuppen silbrig schimmern.
Gegen Abend kommt er wieder zu sich, der von ihm beleidigte Wachtmeister hat sich ein bißchen beruhigt, okay, sagt er, du Arsch, zurück mit dir in dein Charkiw, wenn ich dich hier noch einmal sehe, bring ich dich um, er und sein Kumpan hieven Dog in den Zug nach Charkiw, sagen dem Schaffner, er soll nicht vergessen, den Körper in Charkiw rauszuschmeißen, der Schaffner kriegt es mit der Angst, hat aber keine Wahl, in den Waggon läßt er den blutverschmierten Dog nicht rein, er bringt ihm
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