Depesche aus dem Jenseits
haben.
Heute strahlt die Sonne, es wird ein toller Tag! Seine Babuschka sitzt schon unter dem Kirschbaum und stickt wie üblich Kopftücher. Sie stickt ja immer, das ganze Jahr über, obwohl sie für diese Arbeit nur ein paar Kopeken bekommt. Aber immerhin, damit kann sie ein wenig zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, und es gibt ihr das Gefühl, noch nützlich zu sein, noch gebraucht zu werden. Das ist sehr wichtig für alte Leute!
Iwan liebt seine Großmutter über alles auf der Welt! Was auch immer ansteht, sie macht jeden Spaß mit. Ja, sie gibt den Kindern sogar pfiffige Ratschläge, wenn sie irgendwelche Streiche aushecken. Außerdem kennt sie die spannendsten Geschichten und niemand kann so gut erzählen wie sie. Alle Freunde von Iwan beneiden ihn um seine Babuschka.
»Guten Moooooorgen! Ich koooooomme gleich!«
Und schon wirbelt der Bub aus dem Haus, läuft zu seiner Oma und umarmt sie stürmisch. Aber die alte Frau rührt sich nicht. Sie sitzt erstarrt, zusammengesunken in ihrem Stuhl — die bunten Kopftücher liegen neben ihr auf dem Boden. Mit einem heftigen Ruck richtet sie sich auf, zuckt am ganzen Körper, verdreht die Augen und ringt nach Luft. Iwan weicht überrascht zurück, schaut sie ungläubig an und bleibt einige Sekunden lang wie angewurzelt vor ihr stehen.
»Babuschka, sag doch was! Babuschka, was ist mit dir?« Die Großmutter hängt jetzt leichenblaß in ihrem Stuhl — mit offenem Mund. Sie hört nichts, sie sagt nichts. Zu Tode erschrocken rennt der Junge auf die Straße und schreit verzweifelt: »Hilfe! Hilfe!«
Eine Viertelstunde später rast ein Krankenwagen los und fährt die ohnmächtige alte Frau mit heulender Sirene in die Tcheweniewsky-Klinik. Iwans Eltern waren nicht zu Hause — also begleitet er seine Oma ins Krankenhaus.
Auf der Notaufnahme-Rampe warten schon die Sanitäter. Mit wenigen geübten Griffen holen sie die Tragbahre heraus und verschwinden gleich mit der Kranken, ohne sich um das Kind zu kümmern, das nun völlig verlassen in dem langen, weißen Gang steht. Eine Schwester huscht an ihm vorbei und sagt — als ob das ein Trost wäre:
»Mach dir keine Sorgen, Kleiner, sie spürt nichts mehr, es ist bald vorbei. Dein Vater wird gleich da sein. Setz dich dort hin und warte.«
Iwan wartet also, den Tränen nahe, aber er weint nicht. Er wartet eine ganze Stunde lang, allein in diesem schrecklichen Gang mit den vielen Türen, die dauernd auf und zu gehen. Jedes Mal springt er auf, wenn ein Mann im weißen Kittel an ihm vorbeiläuft und setzt sich wieder enttäuscht hin. Eine alte, liebe Krankenschwester versucht ihn zu trösten, aber er hört nicht auf das, was sie sagt. Er starrt nur auf die Türen.
Endlich kommt ein Arzt aus der Intensivstation heraus und erklärt einem jungen Assistenten gelassen, aber laut und deutlich, so daß Iwan jedes Wort hören und verstehen kann:
»Herzinfarkt. Keine Chance, sie zu retten. Zu alt. Das Herz schlägt einfach zu schnell. Da ist nichts mehr zu machen.«
In diesem Augenblick stürzt der Vater von Iwan in die Klinik, wechselt aufgeregt ein paar Worte mit einer Schwester in der Notaufnahme und läuft blindlings zu dem Arzt, der eben das Todesurteil über Babuschka gefällt hat.
Die beiden Männer gehen nun einige Schritte langsam hin und her vor der offen stehenden Tür des Zimmers, wo die Sterbende liegt. Sie unterhalten sich leise, der Vater nickt betroffen und folgt schließlich dem Arzt in die Intensivstation, ohne den Jungen zu bemerken, der dicht hinter ihm steht.
Also schleicht sich auch Iwan in den Raum hinein. Es ist ein häßlicher Raum mit kalten, weißen Kachelwänden, und in der Mitte — eine dicke Glasscheibe. Dahinter liegt Babuschka zwischen fürchterlichen Apparaten — alle piepsen und blinken merkwürdig. Und die vielen Schläuche! Der Junge zittert, er ballt die Fäuste zusammen und murmelt vor sich hin: »Nein, sie darf nicht sterben! Ich will nicht! Ich will nicht!« Eine unbändige Wut steigt in ihm hoch. Er vergißt sogar seinen Kummer, geht entschlossen zu dem Monitor hin und stiert auf die dünne, grüne Linie, die wild darüber läuft, so schnell, wie das Herz der alten Frau schlägt.
Außer sich vor Zorn schreit Iwan plötzlich: »Warum Babuschka? Warum gerade sie? Ich will nicht, daß sie stirbt!«
Erst jetzt bemerkt eine Schwester die Anwesenheit des Jungen und holt sofort den Vater aus dem Raum nebenan.
Sanft legt Gregori seine Hand auf die Schulter des Kindes:
»Iwan, du
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