Depesche aus dem Jenseits
berichten, bis zu dem Tag, als Ruth plötzlich bei Freunden übel wird. Sie steht auf, murmelt ein paar Entschuldigungsworte, wird erschreckend blaß und bittet um ein Glas Eiswasser:
»Es tut mir leid... mir ist schwindlig... ich gehe ein wenig nach draußen, frische Luft wird mir guttun.«
Sie redet nicht so wie sonst. Sie spricht nicht nur leise, sondern auch gleichgültig, eintönig, abwesend. Besorgt führt sie ihr Mann in den Garten:
»Darling, was ist mit dir? Geht’s besser? Ruth? Sag doch was...«
»Nenn mich nicht Ruth! Ich heiße Bridey!«
Wie eine Furie rennt sie wieder ins Wohnzimmer und schreit wie von Sinnen:
»Ich habe schon ein anderes Leben gelebt! Ich erinnere mich jetzt an alles ganz genau! Ich bin... ich bin Bridey Murphey. Ich wohne in Irland, das Haus ist klein... ich trage ein langes, schwarzes Kleid. Mein Vater sitzt im Gefängnis. Wir haben die Schlacht von Dublin verloren, die Engländer zielen auf uns mit ihren Gewehren, sie wollen mich erschießen — ich verstecke mich, ich renne!« Allgemeine Bestürzung bei allen Anwesenden — Zeugen dieses Ausbruchs von Schizophrenie — ein beliebtes Wort damals in Amerika! Keiner traut sich, Ruth auch nur anzufassen. Alle halten entsetzt den Atem an, während sie völlig exaltiert, mit allen Details, den irischen Aufstand vom 23. Juli 1803 schildert: Robert Emmet kämpft bis zuletzt gegen die Engländer, Feuer bricht aus, Frauen und Kinder fliehen, Männer fallen wie tote Fliegen...
Erschöpft und schweißgebadet, reißt Ruth die Augen weit auf, schaut erstaunt um sich und fällt dann wie eine beiseite gelegte Marionette in einem Sessel zusammen. Die Krise ist vorüber. Es dauert eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hat — und als ihre Freunde sie mit Fragen bestürmen, antwortet sie nur müde, unbeschreiblich müde:
»Was... was wollt ihr von mir? Irland? Ich verstehe nicht... was ist los mit euch?«
Ein paar Tage später hat ihr Mann sie überredet, zu einem Facharzt zu gehen. Zu einem Psychiater. Nicht, daß er am Verstand seiner Frau zweifelt, aber seit dem Vorfall — seit diesem Anfall — ist er beunruhigt: Ruth erzählt immer wieder wirres Zeug. Und anscheinend merkt sie es selber nicht einmal.
Der Fall Murphey erschüttert bald ganz Amerika. Er ist das Gesprächsthema Nummer eins geworden, und als ein erstaunliches, dickes Buch darüber veröffentlicht wird, gehen eine Million Exemplare innerhalb weniger Wochen über die Ladentische.
Selbstverständlich berichten die Zeitungen täglich über die früheren Erlebnisse von Ruth, alias Bridey. Ein spannender Artikel in jeder Ausgabe. Fortsetzung folgt.
Richard Swink entdeckt auf einmal eine ganz neue Welt, voller Rätsel und Überraschungen. Er verfolgt den Fall mit Leidenschaft. Er glaubt daran. Er glaubt an die Geschichte. Auch er glaubt jetzt, wie viele Amerikaner, an die Reinkarnation. Mrs. Simons muß früher Mrs. Murphey gewesen sein! Berühmte Ärzte, anerkannte Wissenschaftler, Historiker und Experten aller Art stellen ihr immer wieder neue Fallen. Vergeblich. An ihrer Geschichte ist nicht zu rütteln — sie lügt nicht! Sie ist keine Simulantin. Sie verrät sogar Einzelheiten über den irischen Aufstand, die nur ganz wenige Historiker kennen. Woher weiß sie das alles? Sie weiß auch, wie sie gestorben ist.
Richard verschlingt jeden Tag die neuen Berichte in den Zeitungen. Nach und nach ist er wie besessen von der Idee der Reinkarnation. Auch Millionen Amerikaner denken an nichts anderes in diesem Sommer 1955.
Und plötzlich meinen viele, auch schon einmal gelebt zu haben. Es vergeht kaum eine Woche, ohne daß ein neuer Fall bekannt wird.
Richard schreit die neuen Sensationen aus:
»Ein Amerikaner erinnert sich an seine beiden früheren Leben!
Im Jahre 1800 war er Indianer! Im 16. Jahrhundert war er ein spanischer Soldat!
Drei Leben für einen einzigen Menschen!«
Einige Tage später:
»In Toronto lebt heute eine Frau, die im Jahre 1092 in Italien verbrannt wurde!«
»In Los Angeles erzählt ein Journalist über sein Leben als Kellermeister in Deutschland im 17. Jahrhundert!«
Und in Buffalo besteht eine Frau sogar darauf, ihr aufregendstes Leben als Pferd gelebt zu haben. Sie war Zuchthengst. Leider kann sie sich nicht mehr genau erinnern, wie sie — oder er — die Stuten beglücken durfte. Das Ganze wird allmählich zur Farce. Und die empörten Stimmen werden immer lauter. Aber das stört Richard Swink in keiner Weise. Er läßt sich nicht so
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