Depesche aus dem Jenseits
würden über ihr Schicksal jammern. Er nicht. Richard ist der untypischste junge Amerikaner, den man sich Mitte der fünfziger Jahre denken kann. Sozialer Aufstieg ist für ihn ein Fremdwort. Er arbeitet ausschließlich, um sich am Leben zu erhalten. Nicht einmal, um zu leben — denn zum Leben gehört eigentlich einiges mehr als die tägliche Nahrung und gelegentlich ein Dach über dem Kopf. Wenn das Wetter schlecht ist, übernachtet er bei seinen Freunden. Sonst, gibt es etwas Schöneres als den sternenklaren Himmel über Oklahoma? Sein Zuhause ist die Straße, seine Familie ist die Straße, sein Leben ist die Straße.
Heute sitzt Richard auf dem Gehsteig neben seinem Stapel Zeitungen, und — er liest ! Zum erstenmal liest er die Zeitung!
»Richard, was ist denn mit dir los? Du liest ja! Kannst du das überhaupt?«
Sein bester Freund, der Schuhputzer, sollte nicht so angeben! Nicht einmal aus Freundschaft hat er jemals eine Zeitung bei Richard gekauft.
»Ach, laß mich doch in Ruhe, du Großmaul!«
»Schlechte Laune, was? Was steht drin? Gibt’s Krieg?«
»Kriege! Die gibt es ja immer! Laß mich in Ruhe, verdammt nochmal!«
Und wieder vertieft sich Richard in seine Lektüre! Es ist unglaublich, fantastisch! Der Titel des Artikels: Reinkarnation ist keine Illusion. Über fünf Spalten erzählt der Redakteur die Geschichte einer Frau, die sich an ihr früheres Leben in Irland, vor hundertfünfzig Jahren, erinnert!
Richard Swinks Familie stammt aus Irland. Seine flammendroten Haare und seine blaugrünen Augen zeugen heute noch von seiner Herkunft. Aber das Leben in Irland vor hundertfünfzig Jahren interessiert Richard überhaupt nicht. Nein, es ist die Reinkarnation, die ihn fasziniert. Er, der sich einen Dreck um alles kümmert, der an nichts und niemanden glaubt, entdeckt gerade in der Morgenausgabe etwas Wesentliches: Man lebt, man stirbt und... man kann wieder geboren werden! Noch nie hatte Richard über seinen eigenen Tod nachgedacht. Wer sich niemals Gedanken über sein Leben macht, der denkt auch nicht darüber nach, wann und wie es enden wird.
Richard hat zwar nicht die Weisheit mit Löffeln gegessen, aber er hat auch kein Brett vor dem Kopf. Und heute, jetzt gerade, beginnt er etwas zu begreifen:
Wenn man lebt, merkt man nicht, daß man lebt!
Von diesem Augenblick an begnügt sich Richard nicht mehr damit, seine Zeitungen zu verkaufen. Er liest sie leidenschaftlich, wie übrigens alle Amerikaner im Sommer 1955. Denn die unheimliche Geschichte von Bridey Murphey erhitzt die Gemüter im ganzen Lande.
Bridey Murphey ist eine Frau, die um das Jahr 1800 in Irland lebte. Aber sie ist auch eine andere: Ruth Simons, eine Frau, die 1955 in Amerika lebt.
Eines Tages, ohne Vorankündigung, erzählte sie, sie hätte schon einmal gelebt! Seltsame Erinnerungen tauchten in ihrem Gedächtnis auf — ganz präzise Bilder, Namen, Ereignisse! Vor hundertfünfzig Jahren, irgendwo auf einer fernen Insel, wo sie — als Amerikanerin des 20. Jahrhunderts niemals gewesen ist!
Selbstverständlich lachten anfangs alle über sie. Auch Wissenschaftler und Journalisten. Aber gerade diese machten mit ihren spöttischen Berichten und besserwisserischen Abhandlungen daraus einen Fall, den immer mehr Menschen in Amerika mit Spannung verfolgten. Die Kirche beschloß, kurzen Prozeß mit der publicitysüchtigen Mrs. Simons, alias Murphey zu machen und bat sie, sich in die Hände von Fachleuten zu begeben — für die Rettung ihrer Seele sozusagen. In Wirklichkeit sollte die Verrückte endlich entlarvt werden!
Die Verrückte machte aber einen sehr vernünftigen Eindruck! Sie ist mit allen Tests einverstanden. Und sie bleibt dabei: Ruth Simons ist eine Reinkarnation von Bridey Murphey!
Nun, auch wenn über eine Milliarde Menschen auf der Erde ganz fest an Reinkarnation glauben, wir — im Abendland — , wir schütteln meist herablassend den Kopf, wenn wieder einmal davon die Rede ist. Unsere westlichen Religionen drohen zwar mit der Hölle und verheißen das Paradies — aber, das ist eben etwas ganz anderes! Wie dem auch sei, Ruth Simons, ungefähr vierzig Jahre alt und ihren Mitbürgern noch nie durch irgendwelche Absonderlichkeiten aufgefallen, lebt im Jahre 1955 in Pueblo, im Staate Colorado. Sie hat einen Ehemann, ein gemütliches Haus, mehrere Kinder, Kühlschrank, Fernsehapparat und ein reizendes Muttermal auf der rechten Wange. Mit einem Wort, es gab nichts, aber auch gar nichts Außergewöhnliches über sie zu
Weitere Kostenlose Bücher