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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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darfst nicht hier bleiben. Bitte, geh wieder hinaus und warte dort auf Mutti. Sie kommt gleich. Komm. Kleiner!«
    Aber der Junge bewegt sich nicht von der Stelle, er schaut nicht einmal seinen Vater an. Mit weit aufgerissenen Augen und mit einer unheimlichen Härte im Gesicht setzt er sich auf einen Hocker vor dem Monitor und fixiert die verrückt spielenden leuchtenden Pünktchen. Er ist so stark angespannt, daß der Arzt den Vater zurückhält, als der Iwan am Arm fassen will. Der Junge ist wie versteinert, der Schweiß läuft ihm über die Stirn und er knirscht mit den Zähnen. Er ist nicht mehr er selber. Dann, auf einmal, beginnt er zu sprechen — mit einer tiefen, festen Stimme, und die Worte klingen seltsam metallisch in dem Raum: »Ich will, daß du langsamer läufst! Ich will, daß du langsamer läufst!«
    Diesen Satz wiederholt er immer wieder, immer lauter und hartnäckiger. Es ist ein Befehl, keine Bitte: »Ich will, daß du langsamer läufst!«, bis der Rhythmus des aufgezeichneten Elektrokardiogramms sich tatsächlich nach und nach beruhigt und schließlich völlig regelmäßig wird. Eine halbe Stunde später öffnet Babuschka die Augen, und Iwan wacht aus seiner Erstarrung auf. Die Großmutter lächelt sehr müde, aber sie atmet ganz normal! Der Arzt, Doktor Andropow, ist eine anerkannte Kapazität im Leningrader Herzzentrum — ein Mann der Wissenschaft, der nur an die Wissenschaft glaubt, und an sonst gar nichts. Er versteht nicht, was er eben mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Rein medizinisch betrachtet ist es unmöglich, daß ein altes, krankes Herz, das so rasend schlug, innerhalb so kurzer Zeit sich wieder völlig erholt. Es ist ein Wunder, aber Doktor Andropow hält nichts von Wundern. Also bagatellisiert er den Vorfall, als er sich von Vater und Sohn verabschiedet:
    »Wir behalten sie einige Tage zur Beobachtung da. Sie braucht jetzt vor allem Ruhe und Erholung.«
    Drei Tage später erleidet die alte Frau einen Rückfall. Der Arzt weist seine Sekretärin an:
    »Benachrichtigen Sie sofort die Familie und bestehen Sie darauf, daß der Junge mitkommt, hören Sie? Er soll unbedingt mitkommen!«
     
    Kurz darauf setzt sich Iwan wieder auf den Hocker vor dem Monitor und wieder hypnotisiert er im Trancezustand die wild zuckende, kleine grüne Linie, bis sie allmählich langsamere und dann regelmäßige Herzschläge von Babuschka aufzeichnet. Dieses Mal sind nicht nur Doktor Andropow und der Vater dabei. Mehrere Ärzte der Tchenewiesky-Klinik sind Zeuge dieser unorthodoxen, aber offensichtlich erfolgreichen Behandlungsmethode.
    Drei Wochen lang besucht Iwan seine Großmutter täglich im Krankenhaus und kuriert sie auf seine Weise, bis zu dem Tag, an dem sie als völlig genesen entlassen wird. Jetzt sitzt sie wieder unter dem Kirschbaum im kleinen Garten und stickt Kopftücher. Iwan tobt draußen mit seinen Freunden und genießt seine Ferien — ein ganz normaler Junge — ein netter, lustiger Kobold, der schon längst den Alptraum vergessen hat! Im Leningrader Herzzentrum hingegen hat man ihn nicht vergessen. Der »Fall Iwan« erhitzt die Gemüter und wird sogar an die höchste Stelle im Ministerium weitergeleitet. Spezialisten für »mentale Kräfte« sollen sich mit den Akten beschäftigen!
     
    Einige Monate später wohnt Iwan mit seiner Großmutter und seinen Eltern in Moskau. Der Familie wurde großzügig eine schöne Wohnung in der Stadt zugeteilt. Gregori ist jetzt kein bescheidener Arbeiter mehr — er hat eine sehr gut bezahlte Stelle im Verteidigungsministerium. Die Mutter braucht auch nicht mehr arbeiten zu gehen. Das ganze Leben der Familie hat sich schlagartig verändert. Nur Babuschka stickt immer noch Kopftücher. Warum auch nicht, wenn sie Spaß daran hat? Sie fühlt sich gesund wie schon lange nicht mehr, und ihr Herz schlägt mit der Regelmäßigkeit eines frisch geölten Uhrwerks.
    Immer dann, wenn ihr Enkel Zeit hat, geht sie unermüdlich mit ihm auf Entdeckungsreisen durch die Hauptstadt. Moskau ist voller Geheimnisse und Überraschungen für die alte Frau und das Kind.
    Alle sind recht glücklich. Der Junge besucht jetzt eine der besten Schulen weit und breit — eine Schule für privilegierte Kinder — aus welchen Gründen auch immer. Es gefällt ihm dort sehr gut, und er hat auch schnell neue Freunde gefunden. Aber leider gehört er nicht ganz umsonst zu den Auserwählten. Dafür muß er schon etwas tun: Anstatt mit den anderen Schülern ins Sportstadion zu gehen, muß er

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