Der 1. Mord - Roman
abzubauen.«
»Diesen Zustand nennt man aplastische Anämie«, fuhr Orenthaler fort. »Das ist sehr selten. Im Grunde handelt es sich darum, dass der Körper nicht mehr genügend rote Blutkörperchen produziert.« Er hielt ein Foto hoch. »So sieht ein normales Blutbild aus.«
Auf dem Bild sah der dunkle Hintergrund aus wie die Kreuzung von Market und Powell Street um siebzehn Uhr: Ein Verkehrsstau komprimierter Energiekügelchen. Eilboten, die alle Sauerstoff in die Körperteile eines anderen Menschen schafften. Mein Bild dagegen sah so belebt aus wie das Hauptquartier einer Partei zwei Stunden, nachdem der Kandidat das Handtuch geworfen hatte.
»Das kann doch aber behandelt werden, richtig?«, fragte ich ihn. Eigentlich befahl ich es ihm.
»Man kann es behandeln«, antwortete Orenthaler nach einer Pause. »Aber es ist sehr ernst.«
Vor einer Woche war ich nur zu ihm gekommen, weil meine Augen trieften und verschwollen waren und ich in meinem Slip Blut entdeckt hatte. Außerdem überfiel mich jeden Tag gegen
drei Uhr nachmittags bleierne Müdigkeit, als würde irgendein an Eisenmangel leidender Zwerg mir Energie aussaugen. Und das mir, die ich regelmäßig zwei Schichten und vierzehn Stunden am Tag arbeitete. Sechs Wochen Urlaub hatte ich schon angesammelt.
»Und wie ernst ist mein Zustand genau?«, fragte ich mit unsicherer Stimme.
»Rote Blutkörperchen sind für den Prozess der Oxygenierung lebenswichtig«, fing Orenthaler an. »Hämatopoese, die Bildung roter Blutkörperchen im Rückenmark.«
»Dr. Roy, das hier ist keine medizinische Tagung. Bitte, sagen Sie mir, wie ernst es ist.«
»Was wollen Sie hören? Diagnose oder Chancen?«
»Ich möchte die Wahrheit hören.«
Orenthaler nickte. Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und nahm meine Hand. »Also, dann die Wahrheit, meine Liebe. Was Sie haben, ist lebensbedrohlich.«
»Lebensbedrohlich?« Mir stockte das Herz. Meine Kehle war so trocken wie Pergament.
»Tödlich, Lindsay.«
4
Der kalte, stumpfe Klang des Wortes traf mich wie ein Hohlgeschoss mitten zwischen die Augen.
Tödlich .
Ich wartete darauf, dass Dr. Roy mir erklärte, dass dies alles nur ein schlechter Scherz sei. Dass er meine Testergebnisse mit denen einer anderen Patientin verwechselt hätte.
»Ich möchte Sie zu einem Hämatologen schicken«, fuhr er
fort. »Wie bei vielen Krankheiten gibt es mehrere Stadien. Im ersten Stadium findet man einen geringen Substanzverlust an Blutkörperchen. Diesen kann man mit monatlichen Bluttransfusionen bekämpfen. Im zweiten Stadium besteht ein systemischer Mangel an roten Blutkörperchen. Bei Stadium Drei ist ein stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich. Eine Knochenmarktransplantation. Möglicherweise die Entfernung der Milz.«
»Und in welchem Stadium bin ich ?«, fragte ich und sog Luft in meine verkrampfte Lunge.
»Ihre Erythrozyten-Zählung hat kaum zweihundert pro Kubikzentimeter Blut ergeben. Damit befinden Sie sich am Scheitelpunkt.«
»Am Scheitelpunkt?«
»Auf dem Scheitelpunkt zwischen Stadium Zwei und Drei.«
Im Leben eines jeden Menschen kommt der Punkt, an dem einem klar wird, dass sich die Chancen grundlegend geändert haben. Die sorglose Lebensfahrt endet plötzlich an einer Betonmauer. Alle diese Jahre, in denen man lediglich dahingehüpft ist und das Leben einen dorthin führt, wohin man will, nehmen ein abruptes Ende. In meiner Arbeit erlebe ich ständig, wie anderen Menschen dieser Moment aufgezwungen wird.
Glückwunsch, jetzt war meiner da.
»Und was heißt das jetzt?«, fragte ich leise. Der Raum drehte sich ein wenig um mich.
»Das heißt, meine Liebe, dass Sie sich einer langwierigen und anstrengenden Behandlung unterziehen müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Und was bedeutet das für meine Arbeit?«
Seit sechs Jahren war ich bei der Mordkommission, die letzten zwei Jahre in leitender Stellung. Mit etwas Glück würde ich Lieutenant werden, wenn mein jetziger Vorgesetzter befördert würde. Das Dezernat brauchte starke Frauen. Sie konnten es weit bringen. Bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, dass ich es weit bringen würde.
»Im Augenblick bedeutet es meiner Meinung nach gar nichts. Solange Sie sich während der Behandlung stark genug fühlen, können Sie weiterarbeiten. Das könnte sogar eine gute Therapie sein.«
Unvermittelt hatte ich das Gefühl zu ersticken. Die Wände des Zimmers schienen sich immer dichter heranzudrängen.
»Ich gebe Ihnen jetzt den Namen des Hämatologen«,
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