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Der 18 Schluessel

Der 18 Schluessel

Titel: Der 18 Schluessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Fiolka
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    1. Offenbarung
     
Danyal
     
    1. Dezember
     
    Der gequälte Schrei suchte sich seinen Weg durch die steinernen Säulenkapitelle, trug sich weiter über die gespannten Gewölbedecken und fing sich dann in den großen Orgelpfeifen, von wo er mit einer derartigen Kraft zu Adelbert Rösner zurück geschleudert wurde, dass dieser sich die Ohren zuhielt und kurz die Augen schloss.
    Die Schreie waren unerträglich! Nicht wie die eines Menschen, vielmehr wie die eines Tieres, welches das Leid unendlicher Folter ertragen muss – Adelbert Rösner war sich in diesem Augenblick sicher, dass die Schreie für immer in seinem Kopf nachhallen würden, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass das Unsinn war und nur die nächtliche Atmosphäre des Kölner Doms ihn Solches glauben lassen wollte. Warum musste ausgerechnet er heute Spät- und Schließdienst haben? Die anderen Kollegen der Domaufsicht waren längst zu Hause, und er beneidete sie in diesem Augenblick dafür.
    Erneut ertönte ein langgezogener Schrei, dieses Mal noch verzweifelter. Rösners Augen waren mit seinen beinahe sechzig Jahren nicht mehr die besten, doch seine Ohren noch immer sehr gut. Die Schreie kamen direkt aus dem inneren Chor, in dem der Dreikönigsschrein stand.
    Ängstlich doch entschlossen lief er durch das Mittelschiff des Langhauses, das vom Westportal geradewegs zum Vierungsaltar und von dort in den Binnenchor, den prunkvollsten und ältesten Teil des Kölner Doms, führte.
    Die einzigen Zeugen, falls ihm etwas zustieße, wären die hölzernen Betbänke, die verlassen die Reihen des Langhauses füllten. Die schwindelhohen Arkaden und gotischen Spitzbögen entzogen sich in der spärlichen Nachtbeleuchtung des Doms Rösners Blicken ebenso wie die hohen Gewölbedecken, welche er in den Schatten der Kathedrale nur erahnen konnte. Adelbert Rösner verließ der Mut. Wie ein schutzbringendes Amulett hielt er den hölzernen Spendenkasten mit dem Tragriemen vor seiner Brust umklammert. Nur keinen Lärm machen! Sein Talar vermochte ihn auf einmal kaum noch vor der winterlichen Kälte im Dom zu schützen, und er begann zu zittern. Aber war es wirklich Kälte oder vielmehr Angst, die ihn frieren ließ ... oder etwas ganz anders ... etwas Böses?
    Mit einer Zurechtweisung an sich selbst wischte er seine Gedanken fort und öffnete die Gittertür, die den inneren Chor von den für Besucher frei zugänglichen Bereichen trennte. Leise trat Adelbert Rösner in den inneren Chorraum und suchte mit den Augen nach der Quelle des Übels.
    Seine Ohren hatten ihn nicht getäuscht. Dort, vor der Vitrine des Dreikönigsschreins, dessen Gold, Edelsteine und Gemmen durch die Beleuchtung wie flüssiges Feuer zu glühen schienen, kauerte ein Mann – ein vollkommen nackter Mann – und stieß fürchterliche Schreie aus.
    Er war jung und besaß einen vollendeten Körper, ganz so als hätte ein Künstler ihn zur Freude des Betrachters geschaffen. Seinen Kopf hatte er zwischen die Knie gelegt, die Beine fest mit den Armen umschlungen. Kurz musste Rösner innehalten und das auf unbegreifliche Weise verletzend schöne Bild dieses Mannes betrachten. Jeder einzelne Muskel an ihm trat in einer Art und Weise hervor, die perfekte Proportionen versprach. Hinter Rösners Angst regte sich unterschwelliges Begehren. Niemand ahnte, dass der Anblick nackter Männer ihn schon immer mehr gereizt hatte als Frauenkörper. Selbst seine verstorbene Frau – Gott mochte sie selig haben – hatte es nicht gewusst. Herr, willst du mich prüfen und versuchen, wie einst Hiob?
    Schlug ihm die nächtliche Atmosphäre des Doms auf den Verstand? Er war nicht so! Sein ganzes Leben hatte er dagegen angekämpft. Rösner zwang sich, seinen Verstand einzuschalten. Vielleicht war der Fremde verrückt und hatte sich nach dem Weihnachtskonzert hier versteckt? Es gab immer wieder Verwirrte, die sich in Kirchen herumtrieben. Gerade in der Weihnachtszeit suchten viele verlorene und einsame Menschen Zuflucht im Wahnsinn. Das musste es sein.
    Mit deutlich mehr Mut und Selbstvertrauen als zuvor entsann der Domwärter sich seiner Pflicht und sprach, wie er hoffte, mit fester Stimme, während er vorsichtig auf den Fremden zuging. „Was ist mit Ihnen, und wie kommen Sie hierher? Der Dom ist längst für Besucher geschlossen. Kommen Sie, wir suchen Ihnen etwas zum Anziehen.“
    Keine Regung, nur ein leichtes Zusammenzucken ließ erkennen, dass der Mann seine Worte gehört hatte. Er antwortete nicht und kauerte sich stattdessen

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