Der 18 Schluessel
weihnachtlichen Lichtermarkt. Eliana hatte allerdings kein Auge dafür. Sie dachte an den Fremden in ihrer Wohnung. Langsam aber sicher kehrte ihr kluger Menschenverstand zurück. Was hatte sie nur bewogen, ihn mitzunehmen und einfach allein in ihrer Wohnung zu lassen? Hoffentlich war bis auf den Domaufseher wirklich niemand Zeuge des gestrigen Vorfalls gewesen. Sie meinte Augenpaare auf sich gerichtet zu fühlen, Gesichter hinter Fenstern und Glasscheiben zu sehen, die sie beobachteten. Blödsinn! Die beiden gotischen Domtürme mit den charakteristischen Krabbendächern schienen das Geheimnis der letzten Nacht für sich behalten zu haben. Eliana lief an der Stelle vorbei, wo sie mit dem Fahrrad gefallen war. Auf dem Boden waren kaum noch Spuren von Blut zu sehen, der Schnee war fort, denn es hatte noch in der Nacht zu tauen begonnen.
Die Menschen hetzten über die Domplatte, Touristen und ganze Reisegruppen wurden von den Stadtführern, die runde Schilder in der jeweiligen Sprache ihrer Gruppe in den Händen hielten, zu den verschiedenen Eingangstoren des Kölner Doms und zum Weihnachtsmarkt geführt. Kinder zupften mit klebrigen Fingern Zuckerwatte von wolkengleichen Gebilden auf Holzstielen, und Eliana wich geschickt rot glasierten Paradiesäpfeln aus. Schon zwei ihrer Jacken waren in den letzten Jahren dem Weihnachtsmarkt zum Opfer gefallen. Aber das war es nicht, was ihr wirklich Sorgen bereitete. Sie hatte sich von den Augen des Fremden gefangen nehmen lassen. Irgendetwas war seltsam an dem Mann, und das lag nicht allein daran, dass er Latein sprach, obwohl das schon Grund genug hätte sein müssen, ihn nicht in ihre Wohnung mitzunehmen. Andererseits – die Domaufsicht hatte offenbar nicht die Polizei gerufen. Das hätte sie doch sicherlich getan, wenn Elianas Vermutungen haltlos gewesen wären, oder? Sie musste mit dem Fremden sprechen, auch wenn sie ihr eingerostetes Latinum dazu bemühen musste. Vielleicht hatte durch das gestrige Erlebnis sein Sprachzentrum einen Knacks bekommen und es gab eine nachvollziehbare psychologische Erklärung für sein Verhalten? Oh, Gott ... sie hatte sich geschworen ... nie wieder psychisch kranke Menschen in ihrem Leben ... nie wieder!
Etwas schneller setzte Eliana ihren Weg Richtung Bahnhof fort. Sie kaufte sich ein belegtes Brötchen und danach Katzenfutter in einem Drogeriemarkt. Dann blieb sie vor einer Boutique stehen und überlegte. Vielleicht wäre ihr seltsamer Gast ja verschwunden, wenn sie nach Hause kam. Unwahrscheinlich! Er hatte nichts zum Anziehen, und ganz sicher würde er nicht am helllichten Tag nackt über die Domplatte laufen. Allerdings – wenn sie ihn loswerden wollte, brauchte er zuerst einmal Kleider. Kurz entschlossen betrat Eliana die Boutique und wurde von einer für die winterliche Jahreszeit zu stark gebräunten Frau gefragt, ob sie ihr helfen könnte.
„Ich suche eine Jeans und einen Pullover für meinen Freund ... zu Weihnachten.“
Die Mittvierzigerin in den Röhrenjeans ging mit ihr zu einem Ständer mit Hosen. „Welche Farbe soll es denn sein, und welche Größe hat Ihr Freund?“
Eliana betrachtete den Kleiderständer. „Schwarz ... die Größe ...“, sie sah sich um, bis ihr Blick an einem Werbeplakat hängen blieb, auf dem ein Männermodel in Jeans und Pullover am Strand einen Stock für einen hechelnden Labrador über dem Kopf schwang. „So in etwa ... wir kennen uns noch nicht lange“, versuchte sich Eliana zu erklären.
Die Verkäuferin richtete sich mit rot lackierten Kunstnägeln ihre blonde Strähnchenfrisur, während sie das Plakat betrachtete. Dann griff sie in die Auswahl eines anderen Kleiderständers und zog eine schwarze Jeans hervor und legte einen dunkelgrauen Wollpullover zu der Jeans. Eliana gab sich mit der Wahl der Verkäuferin zufrieden, dann entdeckte sie in einer Ecke einen Tisch mit reduzierter Herrenunterwäsche. Unwillig wühlte sie in der Kiste, bevor sie etwas nach ihrer Meinung Akzeptables fand.“
In einem Schuhgeschäft kaufte sie noch auf gut Glück ein paar Sportschuhe in einer wie sie hoffte passenden Größe.
Eliana sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk – sie hatte nur eine halbe Stunde Mittagspause, und es war schon fünf vor halb Zwei. Eigentlich hatte sie noch kurz in ihre Wohnung gehen wollen und nach dem Rechten sehen ... Gabriel füttern. Dann hätte der Fremde auch gleich etwas zum Anziehen gehabt und sie hätte ihn mit gutem Gewissen aus ihrer Wohnung hinauskomplimentieren können. Es
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