Der Abgrund
Ihr Hauptfach?«
»Ach, wen interessiert das schon? Ich bin so gerade eben reingekommen und hab's mit Müh und Not geschafft.«
»Das heißt, Sie sind mit siebzehn Jahren auf die Columbia gegangen, Paul Amadeo Romano Junior, und haben nach gerade einmal drei Jahren Ihr Studium der Politikwissenschaften als einer der Besten Ihres Jahrganges mit einem akademischen Grad abgeschlossen. Ihre Dissertation trug den Titel >Die derivativen politischen Philosophien von Plato, Hobbes, John Stuart Mills und Francis Baconc. Und Sie wurden von der Kennedy School of Government in Harvard akzeptiert, sind aber nie hingegangen.«
Romanos Blick war frostig. »Ich mag es nicht, wenn man mir nachschnüffelt.«
»Zur Arbeit des Therapeuten gehört es nicht nur, den Patienten zu verstehen, sondern auch, sich mit seinen Bezugspersonen auseinander zu setzen. Web muss Ihnen vertrauen und viel von Ihnen halten, sonst hätte er Sie nicht geschickt, um mich abzuholen. Ich habe also etwas mit der Maus geklickt und nachgesehen. Nichts Vertrauliches, versteht sich.«
Romano betrachtete sie noch immer misstrauisch.
»Es gibt nicht viele Leute, die einen Platz in Harvard ausgeschlagen hätten.«
»Ich bin eben nicht wie die meisten.«
»Sie hätten ein Stipendium bekommen; also ging es nicht ums Geld.«
»Ich ging nicht hin, weil ich genug von der Schule hatte.«
»Und Sie gingen zum Militär.«
»Das tun viele.«
»Das tun viele nach der High School, aber doch nicht die Klassenbesten aus Columbia mit einem Ticket für Harvard.«
»Sehen Sie, ich komme aus einer großen italienischen Familie, wir haben da Prioritäten. Traditionen. Manchmal kommen die Leute erst ein wenig spät auf den Trichter«, fügte er leise hinzu. »Das ist alles.«
»Sie sind also der älteste Sohn?«
Er warf ihr einen weiteren misstrauischen Blick zu. »Noch einmal mit der Maus geklickt? Verdammt, ich hasse Computer.«
»Nein, aber Sie sind ein >Junior<, und das ist meistens der älteste Sohn. Und Ihr Vater ist verstorben, und er war nicht auf dem College?«
Romano hätte den Wagen fast an den Straßenrand gefahren.
»Sie gehen mir auf die Nerven, Lady, und Sie hören wohl besser damit auf.«
»Ich bin kein Zauberer, Mr Romano, nur eine bescheidene Psychiaterin. Sie haben eine große italienische Familie, Traditionen und Prioritäten erwähnt. Aber von Erwartungen haben Sie nicht gesprochen. Normalerweise werden die ältesten Söhne solcher Familien mit Erwartungen belegt, die sie erfüllen müssen. Sie sagten, manchmal würden sich Leute dieser Traditionen zu spät entsinnen. Ich nehme also an, Sie sind gegen den Willen Ihres Vaters zum College gegangen, er starb, und Sie verließen das College, um jenen Beruf zu ergreifen, den er für Sie vorgesehen hatte. Und trotzdem tragen Sie noch Ihren College-Ring. Wahrscheinlich wollen Sie damit zeigen, dass Sie sich nicht vollständig den Plänen Ihres Vaters für Sie gebeugt haben. Es geht hier nur um Beobachtungen und Folgerungen, Mr Romano. Dieses Werkzeug benutzen Gesetzeshüter jeden Tag.«
»Sagen Sie mal, was soll der Scheiß?«
Sie betrachtete ihn. »Ist Ihnen bewusst, dass Sie manchmal wie ein ungebildeter Mann sprechen?«
»Sie drücken genau die falschen Knöpfe, Doc.«
»Tut mir Leid. Aber Sie sind extrem interessant. Sowohl Sie als auch Web sind interessant. Das liegt wohl an Ihrem Metier. Man muss schon eine sehr spezielle Persönlichkeit haben, um solch einen Beruf auszuüben.«
»Und mit dem Gesülze kommen Sie bei mir auch nicht weiter.«
»Eine angeborene Neugier in Bezug auf meine Mitmenschen gehört zu meinem Job.« Sie lächelte entwaffnend. »Ich wollte Sie nicht verärgern.«
Eine Zeit lang fuhren sie schweigend weiter.
»Mein alter Herr«, sagte Romano schließlich, ohne sie anzusehen, »wollte eigentlich nur eins im Leben. Er wollte einer der Elite von New York sein.«
»NYPD?«
»Yep.« Romano räusperte sich. »Aber er hat das College nicht abgeschlossen, und er hatte eine schlechte Pumpe. Er verbrachte sein Leben auf den Docks und schleppte Kisten voller Fisch herum und hasste jede Sekunde davon. Aber er wollte diese Uniform wie nichts anderes auf der Welt.«
»Und weil er sie nicht bekam, wollte er, dass Sie sie für ihn tragen?«
Romano sah sie an und nickte. »Aber meine Mutter sah es anders. Sie wollte nicht, dass ich auf den Docks arbeite, und noch viel weniger wollte sie, dass ich mir in meinem Job eine Pistole umschnalle. Ich war ein guter Schüler, schaffte
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