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Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Titel: Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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änderte das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, übergangslos seinen Einfallswinkel. Die Schatten in den Felsspalten wurden tiefer und quollen aus den Rissen wie über die Ufer tretende Flüsse. Sie überströmten die Felswand, als falle die verborgene Sonne schnell und schwer wie ein Stein ihrem abendlichen Lager zu. Aditu sang.
    In tiefe Verstecke kriecht sie hinab,
    in ihrem Bett unter trockenem Fels
    zählt sie in kalkigem Schatten
    den eigenen Herzschlag …
    Sie umgingen den großen Felsen und befanden sich plötzlich auf einer abfallenden Böschung. Kleinere, dunkle Felsvorsprünge, manchmal auch blassrosa und sandbraun, ragten aus dem verschneiten Boden. Die Bäume, die hier in den Himmel hinaufwuchsen, zeigten ein satteres Grün, und überall hörte man leise Vögel singen. Der Griff des Winters war hier spürbar schwächer.
    Sie waren ein Stück gelaufen, aber es war fast, als wären sie auch von einem Tag zum andern gewandert, als bewegten sie sich sozusagen im rechten Winkel zur gewöhnlichen Welt, ungehindert wie die Engel, von denen Simon gelernt hatte, dass sie auf Gottes Geheiß hierhin und dorthin flogen. Wie war das möglich?
    Simon schaute durch die Bäume zum einförmig grauen Himmel auf, umklammerte Aditus Hand und fragte sich, ob er vielleicht doch gestorben war. Vielleicht geleitete das feierliche Wesen an seiner Seite, dessen Auge auf Dinge gerichtet zu sein schien, die er nicht wahrnehmen konnte, seine Seele an irgendein letztes Ziel, während sein lebloser Körper irgendwo im Wald lag und allmählich unter einer Decke aus Schneewehen erkaltete?
    Ist es warm im Himmel? , fragte er sich gedankenverloren.
    Er rieb sich mit der freien Hand das Gesicht und fühlte den tröstlichen Schmerz der rissigen Haut. Es kam ohnehin kaum darauf an – er folgte, wohin sie ihn führte. Das Gefühl einer zufriedenen Hilflosigkeit war so stark, dass er das Empfinden hatte, er könne ebenso wenig seine Hand aus ihrer lösen wie sich selbst den Kopf abreißen.
    Wolkenlied schwenkt eine Scharlachfackel,
    einen Rubin unter grauer See.
    Sie duftet nach Zedernrinde
    und trägt Elfenbein auf der Brust …
    Aditus Stimme hob und senkte sich, und der langsame, nachdenkliche Rhythmus ihres Liedes vereinte sich mit dem Gesang der Vögel, wie das Wasser eines Flusses unmerklich in den Strom eines anderen übergeht. Im endlosen Fließen war jeder Vers, jeder Zyklus von Namen und Farben ein juwelenglänzendes Rätsel, dessen Lösung Simon stets auf der Zunge zu liegen schien und sich doch nie aussprechen ließ. Immer wenn er etwas verstanden zu haben glaubte, verschwand es, und etwas Neues tanzte in der Luft des Waldes.
    Die beiden Wanderer traten von der felsigen Böschung in den tiefen Schatten eines Dickichts aus sattgrünen Hecken, das mit winzigen weißen Blumen wie mit Perlen besetzt war. Das Laub war feucht, der Schnee unter ihren Füßen nass und schütter. Simon hielt Aditus Hand fester. Er versuchte sich die Augen zu wischen, vor denen schon wieder alles verschwamm. Die kleinen weißen Blumen dufteten nach Bienenwachs und Zimt.
    Das Auge des Otters ist kieselbraun.
    Unter zehn nassen Blättern gleitet er dahin.
    Wenn er in diamantenen Bächen tanzt,
    lacht der Laternenträger …
    Jetzt hörte man im Einklang mit der steigenden und fallenden Melodie von Aditus Lied und dem zarten Gezwitscher der Vögel das Geräusch von Wasser, das plätschernd in seichte Tümpel floss, musikalisch wie der Ton eines Instruments aus feinem Glas. Schimmerndes Licht brach sich in schmelzenden Schneetropfen; staunend lauschte Simon und sah überall um sich her den funkelnden Glanz der Sonne im Wasser. Von den Ästen der Bäume schien Licht zu tropfen.
    Sie gingen neben einem schmalen, aber munteren Bach her, dessen fröhliche Stimme im Gewölbe des Waldes widerhallte. Auf den Steinen schmolz der Schnee, und unter den feuchten Blättern lag fette, schwarze Erde. In Simons Kopf drehte es sich. Aditus Melodie erfüllte alle seine Gedanken, so wie der Bach um und über die glatten Kiesel glitt, die sein Bett bildeten. Wie lange wanderten sie schon? Zuerst war es ihm nur wie ein paar Schritte vorgekommen, aber jetzt hatte er auf einmal das Gefühl, dass es schon Stunden seinmussten – oder Tage. Und warum schmolz der Schnee? Gerade hatte er doch noch alles zugedeckt?
    Frühling! , dachte er und fühlte, wie ein nervöses, aber jubelndes Lachen in ihm aufstieg. Ich glaube, wir laufen in den Frühling!
    Sie gingen weiter den Bach

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