Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
hätte Euch nicht unterbrechen dürfen«, stotterte Simon. »Es ist nur … ich habe meinen Freund Doktor Morgenes immer wieder gebeten, mir doch einmal einen Zauber zu zeigen. Er hat es nie getan.« Der Gedanke an den alten Mann erinnerte ihn an einen sonnigen Morgen in der staubigen Studierstube und die Stimme des Doktors, wenn er vor sich hin brummelte und mit sich selbst sprach, während Simon fegte.
Mit der Erinnerung überkam ihn ein heftige Bedauern. Das alles war Vergangenheit.
»Morgenes …«, meinte Aditu sinnend. »Ich habe ihn einmal gesehen, als er meinen Onkel in unserer Jagdhütte besuchte. Er war ein hübscher junger Mann.«
»Ein junger Mann?« Simon starrte auf ihr schmales, fast kindliches Gesicht. »Doktor Morgenes?«
Die Sitha wurde auf einmal wieder ernst. »Wir sollten uns hier nicht länger aufhalten. Möchtest du, dass ich das Lied in deiner Zunge singe? Es kann auch nicht mehr Ärger machen, als wir beide schon angerichtet haben.«
»Ärger?« Es wurde immer verzwickter. Aditu hatte bereits wieder ihre seltsame Stellung angenommen, und Simon hatte das plötzliche Gefühl, sich schnell entscheiden zu müssen, bevor eine Tür ins Schloss fiel. »Ja, bitte, in meiner Zunge!«
Sie hob sich auf die Fußballen, sprungbereit wie eine Grille auf einem Zweig. Nachdem sie einen Augenblick tief und regelmäßig Atem geholt hatte, begann sie von neuem mit ihrem Gesang. Nach und nach konnte Simon das Lied heraushören, wenn auch die rauhen, abgehackten Laute von Simons Westerlingsprache in ihrem Mund weicher und flüssiger wurden und die Worte strömten und ineinanderflossen wie schmelzendes Wachs.
Grün ist das Auge der träumenden Schlange.
Aditu sang, den Blick auf die Eiszapfen gerichtet, die wie edelsteingeschmückte Fähnchen von den Ästen einer sterbenden Schierlingstanne hingen. Das Feuer, das der trüben Sonne fehlte, loderte jetzt in ihren glitzernden Tiefen.
Mondsilber ist ihre Spur.
Nur die Frau-mit-dem-Netz
kann die geheimen Orte sehen,
zu denen sie geht …
Aditus Hand löste sich von ihrer Seite und schwebte lange Sekunden in der Luft, bevor Simon verstand, dass er sie ergreifen sollte. Mit dem Handschuh umschloss er ihre Finger, aber sie entzog sich ihm. Einen Augenblick glaubte er sich geirrt und diesem goldäugigen Geschöpf seine unerwünschte, plumpe Vertraulichkeit aufgedrängt zu haben, aber als sie ungeduldig die Finger nach ihm reckte, erkannte er in einer Aufwallung verwirrter Gefühle, dass sie seine unbekleidete Hand wünschte. Mit den Zähnen zerrte er sich die ledernen Fausthandschuhe herunter und packte mit den noch warmen und feuchten Fingern ihr schmales Handgelenk. Sanft, aber fest zog sie es fort und ließ ihre Hand über seine gleiten. Kopfschüttelnd wie eine aus ihrem Nickerchen aufgeschreckte Katze wiederholte sie, was sie bereits gesungen hatte.
Grün ist das Auge der träumenden Schlange,
Mondsilber ist ihre Spur.
Nur die Frau-mit-dem-Netz
kann die geheimen Orte sehen,
zu denen sie geht …
Sie bückte sich unter dem Tannenast mit seiner Eiszapfenlast hindurch und zog Simon mit. Die steife, vom Schnee salzige Brise stach ihm ins Gesicht und trieb Tränen in seine Augen. Der Wald vor ihm schien plötzlich schief, als sitze Simon in einem der Eiszapfen gefangenund starre von innen hinaus. Er hörte seine Stiefel im Schnee knirschen, aber es klang wie aus großer Ferne, als schwebe sein Kopf hoch oben in den Baumwipfeln.
Windkind trägt eine Indigokrone ,
raunte Aditu. Sie gingen, aber es war mehr wie ein Schweben oder Schwimmen.
Seine Stiefel sind aus Kaninchenfell.
Unsichtbar ist es für Mondmutters Blick,
doch sie kann sein vorsichtiges Atmen hören …
Sie machten einen Bogen und kletterten an einen Ort hinunter, der eigentlich eine mit Immergrünbäumen bestandene Schlucht hätte sein sollen; aber Simons verwirrtem Blick erschienen die Äste wie Schattenarme, die sich nach den beiden Wanderern ausstreckten und sie festhalten wollten. Zweige schlugen im Vorbeigehen nach seinen Schenkeln. Ihr Geruch war würzig und stark. Nadeln voller Saft hingen an seiner Hose. Der Wind, der durch die schwankenden Äste hauchte und flüsterte, war ein wenig feuchter, aber immer noch so kalt, dass es Simon schüttelte.
Gelb ist der Staub auf dem Panzer
der alten Schildkröte.
Aditu hielt vor einer bräunlichen Felswand an, die sich aus dem Schnee am Boden der Schlucht hob wie die Mauer eines verfallenen Hauses. Während sie singend davorstand,
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