Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
müssen, der im Frühling von Elias’ Krönungsjahr am Himmel erschienen war. Viele hatten ihn damals mit der Zuversicht jener noch nicht lange zurückliegenden Tage für das glückliche Zeichen eines neuen Zeitalters gehalten. Inzwischen freilich war klar wie Quellwasser, dass der Komet die letzten Tage der Prüfung und des Jüngsten Gerichtes angekündigt hatte. Und was hätte auch, tadelte sie sich selbst, ein so höllenroter Riss im Himmel sonst bedeuten können? Nur blinde Torheit konnte die Menschheit dabei an etwas anderes denken lassen.
Nun denn, dachte sie, wir haben uns selbst unser Bett aus Dornen bereitet; nun wird Gott dafür sorgen, dass wir auch darauf liegen. In seinem Zorn und seiner Weisheit hat er Pest und Dürre über uns kommen lassen, und nun auch diese unnatürlichen Unwetter. Und wer könnte ein deutlicheres Zeichen verlangen als den grässlichen Tod des armen alten Lektors?
Die Schreckensnachricht hatte sich in Burg und Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet. Die ganze letzte Woche hatte kaum jemand von etwas anderem gesprochen: Lektor Ranessin war tot, in seinem Bett ermordet von schrecklichen Heiden, die man Feuertänzer nannte. Die gottlosen Unmenschen hatten auch einen Teil der Sancellanischen Ädonitis in Brand gesteckt. Rachel hatte den Lektor bei König Johans Begräbnis gesehen; ein vornehmer und heiliger Mann war er gewesen. Jetzt hatte es in diesem grausamsten aller Jahre auch ihn getroffen.
Herr, rette unsere Seelen. Der heilige Lektor ermordet, und die Nächte sind voller Dämonen und Geister, sogar mitten auf dem Hochhorst.
Schaudernd dachte sie an das, was sie selbst erst unlängst nachts vom Fenster des Dienstbotenflügels aus beobachtet hatte. Kein Geräusch und kein Anblick, sondern eher ein unbestimmtes Gefühl hatte sie zum Fenster getrieben. Lautlos hatte sie ihre Schlafstätte verlassen und war auf einen Stuhl geklettert, hatte sich an einen Fensterflügel gelehnt und hinunter in den Heckengarten gespäht. Dort, zwischen den dunklen Umrissen der Heckentiere, hatte ein Kreis stummer, schwarzgewandeter Figuren gestanden. Schier atemlos vor Entsetzen hatte Rachel sich die alten, unzuverlässigen Augen gerieben, aber die Gestalten waren weder ein Traum noch eine Sinnestäuschung gewesen. Noch während sie sie anstarrte, hatte einer der Verhüllten aus Augen, die wie schwarze Löcher in einem leichenweißen Gesicht gähnten, zu ihr aufgeblickt. Sie war fortgelaufen und in ihr hartes Bett gesprungen, wo sie sich die Decke über das Gesicht gezogen und schwitzend und vor Angst schlaflos bis Tagesanbruch da gelegen hatte.
Vor diesem Jahr der Unordnung hatte Rachel ihrem eigenen Urteil mit demselben festen Glauben vertraut, den sie auch Gott, ihrem König und dem geheiligten Zustand der Ordnung entgegenbrachte. Nach dem Auftreten des Kometen, vor allem aber nach Simons schrecklichem Ende, war dieser Glaube erschüttert worden. In den ersten zwei Tagen nach ihrer mitternächtlichen Vision war Rachel wie betäubt in der Burg herumgelaufen und hatte ihre Arbeit nur halbherzig erledigt; vielmehr hatte sie sich ernstlich gefragt, ob sie jetzt doch die vertrottelte Alte geworden war, die sie niemals hattewerden wollen – sie hatte sich sogar geschworen, das Zeitliche zu segnen, bevor dieser Zustand erreicht war.
Aber es stellte sich bald heraus, dass der Wahnsinn, der die Herrin der Kammerfrauen erfasst hatte, äußerst ansteckend sein musste. Viele andere hatten die blässlichen Gespenster ebenfalls zu Gesicht bekommen. Der kleiner gewordene Markt auf der Mittelgasse von Erchester war voll von Getuschel über die Wesen, die bei Nacht Stadt und Land heimsuchten. Manche hielten sie für die Geister von Elias’ Opfern, die keine Ruhe fanden, solange ihre Köpfe auf Spießen über dem Nerulagh-Tor steckten. Andere meinten, Pryrates und der König hätten einen Handel mit dem Teufel selbst geschlossen, und die untoten Höllenwichte hätten in Elias’ Auftrag Naglimund vernichtet. Nun warteten sie darauf, weitere Greueltaten zu vollbringen, sobald er es ihnen befahl.
Rachel der Drache hatte früher an nichts geglaubt, das nicht auf Vater Dreosans Liste kirchlich anerkannter Dinge stand, und darauf vertraut, dass ihr selbst der Fürst der Dämonen den Weg freigeben müsste, wenn es hart auf hart ging, weil sie nämlich sowohl den gesegneten Erlöser Usires als auch den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite hatte. Inzwischen aber war sie von der Existenz der Dämonen genauso
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