Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Augenhöhlen von Schädeln.
Seine Kraft war endlich erschöpft, so nahe vor dem Ziel. Die bröckelnde, eisglatte Straße endete an einem gewaltigen Tor im Angesicht des Berges, einem Tor, höher als ein Turm, gefügt aus Chalzedonquarz, schimmerndem Alabaster und Hexenholz, das in Angeln aus schwarzem Granit hing. Seltsame Figuren und noch seltsamere Runen waren darauf eingraviert. Vor diesem Tor blieb er stehen, und aus dem gequälten Körper rann die letzte Wärme. Als die Schwärze des nahenden Endes sich über ihn zu senken begann, öffnete sich das ungeheure Tor. Eine Schar weißer Gestalten kam heraus, herrlich anzuschauen wie Eis in der Sonne, schrecklich wie der Winter selbst. Sie hatten ihn kommen sehen, hatten jeden seiner schwachen Schritte durch die weiße Wildnis beobachtet. Nun, da ihre unergründliche Neugier befriedigt schien, trugen sie ihn endlich in die Festung des Berges.
Der namenlose Reisende erwachte in einer großen Säulenhalle tief im blau beleuchteten Herzen des Gipfels. Rauch und Dampf aus dem riesigen Brunnen im Mittelpunkt der Felskammer stiegen in die Höhe und vermischten sich mit dem Schnee, der unter der unermesslich hohen Decke tanzte. Lange Zeit konnte der Reisende nur daliegen und in die wirbelnden Wolken hinaufstarren. Als es ihm gelang, die Augen ein Stück weiter zu bewegen, sah er vor sich einen gewaltigen Thron aus schwarzem, von einer Patina aus Frost überzogenen Fels.
Darauf saß eine weißgekleidete Gestalt, deren Silbermaske wie eine azurblaue Flamme loderte und das Licht widerspiegelte, das aus dem gigantischen Brunnen strömte. Plötzliche Seligkeit erfüllte den Mann, zugleich aber auch eine furchtbare, grausame Scham.
»Gebieterin!«, rief er, als seine Erinnerung in einer Flutwelle zu ihm zurückkehrte, »zerstört mich, Gebieterin! Vernichtet mich, denn ich habe versagt!«
Die silberne Maske neigte sich in seine Richtung. Ein wortloser Gesang stieg aus den Schatten der Halle empor, und die Augen unzähliger Beobachter glitzerten auf ihn herunter, als seien die Geister, die ihn durch die Öde begleitet hatten, nun hier zusammengetroffen, um über ihn zu richten und Zeugen seines Untergangs zu sein.
»Schweig«, befahl Utuk’ku. Ihre schreckliche Stimme packte ihn mit unsichtbaren Händen und ließ ihn eine Kälte fühlen, die bis in sein innerstes Herz reichte und ihn zu Eis werden ließ. »Ich will herausfinden, was ich zu wissen begehre.«
Nach seinen furchtbaren Wunden und der schaurigen Reise durch die Schneefelder war er so voller Schmerzen gewesen, dass er ganz vergessen hatte, dass es noch andere Gefühle gab. Er hatte die Qual so achtlos ertragen wie seine Namenlosigkeit, aber es war nur eine Pein des Körpers gewesen. Jetzt wurde er – wie die meisten, die nach Sturmspitze kamen – daran erinnert, dass es Qualen gab, deren Ausmaß jede Verletzung des Leibes unendlich weit übertraf, und ein Leid, das von keiner Aussicht auf Erlösung durch den Tod gemildert wurde.
Utuk’ku, die Herrin des Berges, war unfassbar alt und klug. Vielleicht hätte sie, was sie von ihm wissen wollte, auch erfahren können, ohne ihn so entsetzlich zu foltern. Falls jedoch ein solcher Gnadenakt möglich war, verzichtete sie darauf.
Er schrie und schrie. Die riesige Kammer hallte wider davon.
Die eisigen Gedanken der Nornenkönigin krochen durch ihn hindurch, zerrten mit kalten, achtlosen Klauen an seinem tiefsten Inneren. Es war eine Qual, die alles überstieg, jenseits von Furcht und Vorstellungsvermögen. Utuk’ku leerte ihn, und er sah hilflos zu. Alles, was geschehen war, alle seine Erlebnisse sprangen aus ihm heraus; seine intimsten Gedanken, sein ureigenstes Ich rissen sich los und stellten sich zur Schau; es war, als hätte sie ihn aufgeschlitzt wie einen Fisch und seine sich windende Seele ans Licht gezerrt.
Noch einmal erlebte er die Verfolgungsjagd auf dem Berg Urmsheim, die Entdeckung des Schwertes, das sie gesucht hatten, durch die, denen sie folgten, seinen eigenen Kampf mit den Sterblichen und den Sithi. Wieder sah er die Ankunft des Schneedrachen und seine eigene, schreckliche Verwundung, als er zerquetscht und blutend unter jahrhundertealten Eisblöcken begraben lag. Dann beobachtete er ein fremdes, halbtotes Wesen, das sich über die Schneefelder nach Sturmspitze durchkämpfte, ein namenloses, elendes Geschöpf, das seine Jagdbeute, seine Gefährten und sogarden Hundehelm verloren hatte, mit dem er als erster Sterblicher, der sich jemals Jäger der
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