Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
in die Tiefe, wobei die Bretter immer wieder dröhnend gegen die letzten noch stehenden Verstrebungen prallten.
Emma baumelte unter dem Kuppelrand. Sie versuchte, nicht nach unten zu schauen. Die Winde des Flaschenzugs über ihrem Kopf quietschte, als sie sich langsam zu drehen begann. Auch Emma drehte sich, erst nach links, dann nach rechts und schlieÃlich einmal ganz um die eigene Achse. Das Tau in ihren Fäusten gab nach. Wie der ein Ruck, der ihr bis ins Herz fuhr. Und noch einer. Hilfe suchend sah sie zu der Heiligen Dreifaltigkeit über ihrem Kopf auf. Sie meinte, Mitleid und Verständnis für ihre Angst in den gütigen Augen der Mutter Gottes zu lesen.
In der nächsten Sekunde gab etwas im Mechanismus des Flaschenzugs nach, etwas, das Emmas Sturz bisher verhindert hatte. Immer schneller trudelte sie auf das Marmormosaik im Steinboden der Michaelskirche zu. Sie schloss die Augen und klammerte sich mit aller Kraft an das Tau des Flaschenzugs, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Auch als der Flaschenzug nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt abrupt stoppte, bedeutete das nicht etwa, dass sie Glück gehabt hatte: Als sie die Augen öffnete, kam ihr die Kanzelsäule rasend schnell entgegen. Einen Herzschlag später prallte Emma mit der Stirn gegen den kalten Granit. Ihre Hände lösten sich von dem schwingenden Seil. Das allerdings merkte sie nicht mehr.
A ls Emma erwachte, schien ihr ein strahlendes Licht ins Gesicht, und sie schwebte. Ich bin im Himmel, dachte sie. Hinter ihren Lidern kreisten farbige Sternchen, berührten sich, verschmolzen und trieben wieder auseinander. Sie öffnete die Augen. Aus dem Licht beugte sich ein Engel über sie. »Sie kommt zu sich«, sagte der Engel, der eine grüne Haube, einen Mundschutz und ein grünes Gewand trug. Dann sagte er: »Können Sie mich hören?«
»Ja«, antwortete Emma.
»Sind Sie gegen irgendetwas allergisch?«
»Gegen Volksmusik.«
»Sie hört uns nicht«, sagte ein anderer Engel, den Emma nicht sehen konnte.
»Wo bin ich?«, fragte sie.
»Aber ihre Lippen bewegen sich«, sagte der erste Engel.
»Sie spürt nichts«, sagte der andere Engel. »Das ist nur die Entspannung der Gesichtsmuskeln.«
»Ich spüre etwas«, sagte Emma.
»Geben Sie ihr trotzdem noch ein paar Einheiten Propofol.«
»Ich bin sicher, dass sie nichts spürt.«
»Und ob ich was spüre!«, widersprach Emma, nicht mehr sicher, ob sie es hier wirklich mit Engeln zu tun hatte. »Es tut weh.« Sie lag auf dem Rücken, und rechts und links von ihr standen noch mehr Gestalten in grünen Hauben und Gewändern. Irgendwo erklang ein lei ses Piepsen, auÃerdem ein stetiges Zischen wie von einem Blasebalg. Sie stellte fest, dass sie eine Atemmaske auf dem Gesicht hatte, die ihre Worte verschluckte. In ihren Armen steckten Infusionsnadeln, und an einem Finger klemmte ein dünner roter Schlauch. Die Konturen der Schläuche und Nadeln verschwammen allmäh lich; alles wurde unscharf. Emma begann wieder zu schweben, erfüllt von einem süÃen Rausch. Die Augen fielen ihr zu.
»Bewegen sich ihre Lippen noch?«, fragte die zweite Stimme.
»Nein, nur ihre Augen unter den Lidern«, antwortete die erste. »Hören Sie mich, Frau Bruch?«
Frau Bruch? Ich heiÃe nicht Bruch. Ich bin Emma Brahms.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Nein. Alles in Ordnung. Wir können anfangen. Musik, bitte.«
Anfangen? Womit anfangen? Was für Musik?
Die Engel, bei denen es sich offenbar doch nicht um Engel handelte, waren jetzt nur noch als Schatten hinter Emmas geschlossenen Lidern zu erkennen.
Plötzlich erklangen Schlittenglocken, ein Chor jubilierte. Blechbläser schmetterten. Was ist das für Musik? »Jingle Bells«? Nein â »Vom Himmel hoch â¦Â« Also bin ich doch im Himmel. Und dabei dachte ich immer, Gott hört Bach.
Vielleicht, wenn er allein ist. Vielleicht hören die Engel Weihnachtslieder, wenn sie operieren.
Wenn sie operieren? Seit wann führen Engel Operationen durch? Halt, ihr seid gar keine Engel! Ich bin nicht im Himmel, ich bin in einem Krankenhaus. Ich werde operiert.
Aber ich bin doch nur gegen die Kanzel geknallt. Ich kann doch höchstens â¦
Sie spürte einen Stich im Bauch, nein, einen Schnitt. Sie zuckte zusammen, obwohl es gar nicht besonders wehtat.
»Sie hat sich wieder bewegt!«,
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