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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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während ihr ein Stich von der Operationswunde hoch in die Brust schoss. »Und ich war die ganze Zeit wach!«
    Â»Komme ich gerade ungelegen?«, fragte eine Frauenstimme vom Gang her.
    Â»Sera!« Emma spürte, wie sich ihre Zehen verkrampften, wie immer, wenn sie sich freute.
    Der Arzt presste eine Hand gegen die gerötete Wange wie ein gezüchtigtes Kind und taumelte rückwärts zur Tür, wo er auf dem Absatz kehrtmachte und davon stürmte.
    Sera trug einen knöchellangen Uniformmantel, der neu este Look, komplett mit kleinen silbernen Säbeln am Kragen und den Rangabzeichen eines Offiziers der Sowjetarmee, dazu eine Pelzmütze, Schaftstiefel, Jeans, Rollkragenpullover und Stulpenhandschuhe aus Bisonleder. »Du musst endlich aufhören, so abweisend zu den Männern zu sein«, sagte sie.
    Â»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, fragte Emma.
    Â»Es gibt Menschen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie es ins Internet stellen, wenn jemand von einem Gerüst stürzt«, sagte Sera.
    Â»Ich bin nicht vom Gerüst gestürzt«, widersprach Emma. »Das Gerüst ist unter mir zusammengebrochen.«
    Sera zog die Handschuhe aus und warf ihren Mantel ab, nur die Pelzmütze behielt sie auf. Unter der Mütze ringelten sich einige vorwitzige blonde Locken hervor, die wie Korkenzieher über die Ohren hingen. Ihr Blick wanderte zwischen Emma und der Tür hin und her. »Ist er zudringlich geworden?«, fragte sie.
    Â»Du glaubst gar nicht, wie zudringlich!«
    Sera griff nach dem Zwieback und biss hinein. »Darf ich? Ich habe den ganzen Tag nur warmes Wasser mit Honig und Zitrone zu mir genommen.«
    Emma nickte und erzählte von ihrem Erlebnis im OP, der falsch dosierten Narkose und dem gestohlenen Blinddarm.
    Als sie fertig war, fragte Sera: »Bist du sicher, dass es eine Verwechslung war?«
    Â»Was meinst du damit?«
    Â»Ich meine, du bist Emma Brahms. Wenn dir was zustößt, kann das gar keine Verwechslung sein. Oder Zufall.« Jetzt griff Sera nach dem Apfel. Nach einigen krachenden Bissen hörten ihre Kiefer auf zu mahlen, und ihr Gesicht nahm einen verstörten Ausdruck an.
    Â»Was hast du denn?«, fragte Emma.
    Â»Ich weiß nicht … Mir ist so komisch … Ich glaube, mir wird schlecht.«
    Â»Das kommt davon, wenn man sich nur von heißem Wasser mit Honig und Zitrone ernährt.«
    Â»Dazu habe ich den ganzen Vormittag Pliés, Sprünge und Drehungen geübt.« Sera legte den Apfel zurück und setzte sich auf die Bettkante. Nach ein paar Sekunden streckte sie sich neben Emma aus. »Ich leg mich zu dir, nur bis mir etwas besser ist.« Sie schloss die Augen und murmelte. »Weißt du, dass ich noch nie bewusstlos war?«
    Emma sagte: »Ich war sogar tot.«
    Sera riss die Augen auf. »Tot?«, wiederholte sie ungläubig. »Und wie war das so?«
    Emma zögerte, aber dann dachte sie, wenn sie es ihrer besten Freundin nicht erzählen konnte, wem dann? »Ich weiß, das klingt etwas komisch«, fing sie an. »Einerseits stand ich ja unter Narkose, andererseits war ich aber wach. Ich lag auf dem Operationstisch, mein Körper jedenfalls, um den die Ärzte und Schwestern herumflatterten. Und gleichzeitig schwebte ich über ihnen und mir, im OP, aber auch draußen, über dem Krankenhaus, der Stadt und sogar über der ganzen Welt. Das musst du dir mal vorstellen!«
    Â»Versuche ich gerade«, sagte Sera. Sie schloss die Augen wieder. »Ich sehe so eine Art umgekehrte Nabelschnur, an der deine Seele zappelte wie ein Papierdrachen an seiner Schnur.«
    Emma nickte. »Ich stieg immer weiter auf, einem hellen Licht entgegen. Aber die Schnur verhinderte, dass ich die Dunkelheit ganz abschütteln konnte. Dazu gehörte alles, was in dem OP und in meinem ganzen Leben schiefgelaufen war. Es war, als bliebe man in der Larve stecken, nachdem man schon halb zum Schmetterling geworden ist. Wenn ich zurückschaute, konnte ich mein ganzes Leben sehen, mit allen Menschen, die ich kannte …«
    Â»Wie einen Film?«
    Â»Nein, mehr wie ein Mosaik. Es waren allerdings keine vollständigen Bilder, sondern nur Puzzleteilchen eines ein zigen großen Bildes. Plötzlich erkannte ich, wie unvoll ständig hier unten alles gewesen war. Und das Über raschende war, dass die Bilder keine Reihenfolge hatten, nicht wie im Leben, wo man denkt, eins kommt nach dem anderen.

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