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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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auch Kinder, die an den Nikolaus oder das Christ kind schreiben, ohne ihre Anschrift zu kennen. Und sie erhalten Antwort.«
    Â»Ja, weil die auf der Erde beantwortet werden. Es gibt irgendwo eine Sammelstelle, an die solche Briefe von der Post geschickt werden, und da gibt es Leute, die sie beantworten.«
    Â»Die gibt es in unserem Fall auch.«
    Â»Ach, und die wäre?«
    Â»Der Vatikan.«
    Kant riss die Augen auf und kniff sie dann gleich wieder zusammen. »Der Vatikan in Rom?«
    Â»Nein, der auf den Osterinseln.« Emma schüttelte den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit. »Der Papst ist der Stellvertreter Gottes auf Erden, also ist der Vatikan auch die Vertretung des Himmels hier unten. Und damit die Meldeadresse für alle amtlichen Dokumente wie zum Beispiel eine Schadensersatzklage.«
    Langsam trat ein Lächeln auf Kants Gesicht. »Die Päpstlichen Bullen«, murmelte er.
    Â»Was?«
    Â»Der Schadensersatz. Geld oder Naturalien. Wir könnten eine Viehzucht gründen. Bio-Rinder, aus den Gärten des Vatikans.«
    Â»Die Päpstlichen Bullen sind keine Tiere«, klärte Emma ihn auf. »Es waren kirchliche Rechtserlasse des Papstes, die in der Kanzlei des Vatikans ausgefertigt und feierlich mit dem päpstlichen Siegel versehen wurden. Das Siegel hieß Bulle .«
    Die Enttäuschung auf Kants Gesicht hielt nicht lang an. »Na gut, es gibt ja noch andere kirchliche Besitztümer. Liegenschaften, Kunstschätze, Wertpapiere und so weiter, an die wir uns halten können, wenn wir erst mal einen Titel haben. Oder im Fall eines Vergleichs. Mit einem Bruchteil davon könnte ich meine Kanzlei retten …«
    Â»Und das Geschäft meines Vaters!« Daran hatte Emma noch gar nicht gedacht.
    Â»In jedem Fall müssen wir achtgeben, dass der Gerichtsstand nicht Rom ist. Ich habe mein ganzes Latein vergessen.«
    Â»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wie wär’s mit Wittenberg? Da hat schon Luther sich mit der Kirche …«
    Â»Und was machen wir, wenn die sich tot stellen?«, wollte Kant wissen. »Selbst wenn die Rechtsabteilung des Vatikans die Klage weiterleitet, warum sollte man im Himmel darauf reagieren? Das passiert doch tagtäglich in jeder größeren Firma – die Geschäftsführung tut, was sie will, egal, was der Außendienst anregt.«
    Emma merkte, wie ihre Begeisterung schlagartig nach ließ. Kant hatte den Finger in die Wunde gelegt. »Ich glaube, ich nehme jetzt doch einen Punsch«, murmel te sie.

    A m nächsten Morgen hatte Emma einen furchtbaren Kater, der umso fürchterlicher war, als es sich um den ersten in ihrem Leben handelte. Mit zugeschwollenen Augen tastete sie sich durch die Wohnung, während ein stechender Schmerz ihren Schädel zu sprengen drohte. In der Küche hielt sie mit zitternden Händen ein Wasserglas unter den laufenden Hahn, fühlte sich aber zu schwach, es zum Mund zu führen, in dem ihre Zunge aufgedunsen am ausgedörrten Daumen klebte. Schließlich, als ihre Finger unter dem fließenden kalten Wasser fast erstarrt waren, beugte sie sich so weit über die Spüle, dass sie das Glas berühren konnte, ohne es heben zu müssen.
    Bei dem Gedanken an Kaffee wurde ihr schlecht. Auch die Vorstellung, etwas kauen und hinunterschlucken zu müssen, löste schwindelerregende Übelkeit aus. Es war wie das Aufwachen nach der Narkose, nur schlimmer, weil die Freude darüber, noch am Leben zu sein, fehlte. Sie trank das Glas leer, stellte es klirrend ab und schlurfte zurück zum Bett.
    Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie nach Hause gekommen war und was sie davor getan hatte. Der Nebel lichtete sich kurz und zeigte ihr eine dunkle Kaschemme und das verschwommene Gesicht von Julian Kant. Die Erinnerung an lärmende Musik kehrte zurück, an Mädchen, die halb nackt auf einer Bühne tanzten. An Män ner, alle fremdartig, von finsterer Anmutung, von de nen einige an den Tisch kamen, um mit Julian zu reden, nicht mit ihr. Sie interessierte keinen, niemand nahm sie auch nur wahr. Nachdem ein paar Scheine den Besitzer gewechselt hatten, hatte Julian mit den Schultern ge zuckt, eine Entschuldigung gemurmelt und, jetzt wusste sie es wieder, weiter mit ihr an der Klageschrift gear beitet.
    Bis zum frühen Morgen – irgendwann waren sie fast allein gewesen in der Bar – hatten sie an der Begrün dung für die Klage gefeilt.

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