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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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Sie hatten eine schier endlose Reihe von gravierenden Fällen zusammengestellt, in denen Emmas Schutzengel dramatisch versagt oder auch nur ungenügend gearbeitet hatte. Hatten beschrieben, wel che Konsequenzen die Folge gewesen waren. Hatten den seelischen Schaden und die körperlichen Nach wirkungen aufgeführt. Hatten an Formulierungen gefeilt und flammende Appelle an die himmlische und irdische Gerechtigkeit gerichtet, wieder verworfen und neue gefunden. Und dabei hatten sie immer mehr getrunken.
    Jetzt erinnerte Emma sich auch, dass Julian ihr im Verlauf der Nacht immer weniger unangenehm vorgekommen war. Genau genommen hatte sie sogar irgendwann angefangen, ihn fast sympathisch zu finden, vor allem, wenn er – was mehrmals geschehen war – lauthals »J’accuse!«, gerufen hatte. Sie widerstand der Versuchung, ihn anzurufen, was ihr nicht besonders schwerfiel, weil sie in ihrer jetzigen Verfassung vermutlich keinen verständlichen oder auch nur zusamenhängenden Satz hätte hervorbringen können.
    Sie erinnerte sich auch, dass sie in den frühen Morgenstunden die Handynummer von Monsignore Wenzel gewählt hatte, um ihn zu fragen, ob es notwendig war, mehr als » c / o Vatikanstaat, Rom« auf das Kuvert zu schreiben, wenn man jemandem im Himmel eine Klageschrift zustellen wollte. Aber sie hatte nur die Mailbox des Referats für Bewahrung und Instandhaltung kirchlichen Kulturguts erreicht.
    Wäre nicht so viel Akohol im Spiel gewesen, hätte Emma vielleicht noch mal nachgedacht. Spätestens, als der Anwalt die Schadenersatzsumme einsetzte, auf die er ihren Schutzengel in ihrem Namen verklagen wollte – »100 Mil lionen Euro, sonst wachen die da oben gar nicht erst auf« –, wäre ihr unter anderen Umständen wohl schlecht geworden. Jetzt war ihr schlecht, und als ihr diese Summe wieder einfiel, wurde ihr dazu noch schwindlig. Dem Teufel ihre Seele verkauft, dachte sie, für hundert Millionen Euro, abzüglich dreißig Prozent für den Anwalt. Sie wälzte sich auf den Bauch. Wo war ihr Handy?! Sie musste Julian anrufen, er durfte den Schriftsatz nicht abschicken.
    Ãœber den Schlafzimmerboden zog sich eine Spur aus Kleidungsstücken, beginnend mit dem Höschen ganz dicht am Bett. Etwas weiter entfernt der BH, ein Strumpf, noch ein Strumpf, Jeans und Bluse fast bei der Tür. Auf der anderen Seite der Schwelle mussten die Stiefel liegen. Den Wintermantel hatte sie noch aufgehängt, da war sie sich ziemlich sicher. Und die Tasche? Hatte sie eine Tasche bei sich gehabt? Natürlich, sie ging nie ohne Tasche aus dem Haus.
    Inzwischen zitterten nicht nur ihre Hände, sondern auch ihre Beine. Nie wieder Alkohol, dachte sie. Keinen Punsch, keinen Wodka, kein Bier. Nichts von dem, was sie gestern alles in sich reingekippt hatte. Wie war sie nach Hause gekommen? Mit einem Taxi? Wo war dann ihr Geld? Nein, Julian hatte sie gefahren, genau, es war eine Fahrt gewesen wie im Autoscooter, und sie hatte … Mein Gott, sie hatte sich übergeben! Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt und sich während der Fahrt aus dem schlingernden, rutschenden VW-Bus übergeben. Also lag die Tasche entweder in Julians Bus oder in ihrem Separee im Amor Club . Oder in Sankt Michael. In der Kirche war sie zuerst gewesen, von dort aus hatte sie sich auf die Suche nach dem Anwalt begeben.
    Der Moment der Erkenntnis zeigte ihr vor ihrem inneren Auge ein Bild der Tasche auf der Kirchenbank unter der Kanzel, dicht am dunklen Mittelschiff. Dort lag sie vielleicht immer noch, es sei denn, jemand hatte sie gefunden und beim Küster abgegeben.
    In fliegender Hast zog sie sich an und eilte zur Bahn, um in die Stadt zu fahren. Auf frisch gestreuten Gehwegen lief sie zur Kirche, klingelte Sturm an der Pforte zur Sakristei und hatte Glück: Der Küster war da und öffnete sogar. »Frau Brahms!«, sagte er überrascht.
    Â»Meine Tasche!«, rief sie. Sie stürmte an ihm vorbei, sah sich suchend um und wollte gerade weiter ins Kir chenschiff, als der Küster hinter ihr sagte: »Ach, das ist Ihre. Ich habe sie gestern früh gefunden, aber es waren keine Papiere darin. Ich wusste nicht, wem sie –«
    Gestern früh? Unmöglich. Egal. Wo ist sie? Her damit! Ah, da! Sie riss dem Küster ihre Tasche aus der Hand, kramte mit fliegenden Fingern das Handy hervor und scrollte über das Display, bis Julians Nummer auftauchte. Wählte.

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