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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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Winter ans Fenster gestellt, um Fieber zu kriegen und daran dann zu sterben. Die Kameliendame, so was schwebte dir vor, Blut im Taschentuch. Du hast uns angeschrien, mich, Gott, seinen Sohn, uns alle zum Teufel gewünscht, vor allem mich. Da haben wir einen Fehler gemacht – ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe zugelassen, dass man mich von einer anderen Aufgabe abzieht, um dir beizustehen.«
    Â»Was war das für eine Aufgabe?«, fragte Emma kleinlaut.
    Â»In einer Grundschule kam mit Salmonellen verunreinigtes Essen auf die Teller einer Klasse von …«
    Â»Nein!« Emma widerstand der Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten. »Ich will nichts mehr hören!«
    Â»Es ist noch mal gut gegangen, gerade so eben. Aber um ein Haar hätten mehrere Kinder, darunter mein kleiner Schützling, mehr Pech gehabt als du in deinem ganzen Leben. Deswegen hat jemand bei uns beschlossen, dir eine Lehre zu erteilen und dir so lange niemanden zur Hilfe zu schicken, bis du sie wirklich brauchst – und nicht einen Anwalt damit beauftragst, sie für dich einzuklagen!«
    Â»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Emma leise.
    Â»Nein, genauso wie du nicht gewusst hast, dass Mark dich wirklich geliebt hat und dass er weggegangen ist, weil er das Gefühl hatte, du würdest ihn dauernd auf den Prüfstand stellen und nur darauf warten, dass er einen Fehler macht. Er hat keinen anderen Weg gesehen, sich zu schützen. Du dachtest, es läge an deinem dauernden Pech, dabei hast du es erst herbeigeführt.«
    Jetzt sagte Emma gar nichts mehr.
    Â»Aber als du auf dem OP-Tisch beinahe gestorben wärst, da hast du wirklich Hilfe gebraucht, und ich habe es gerade noch rechtzeitig geschafft. Und was war noch mal der Dank? Ach ja, ich bin verklagt worden.« Mit einem Kopfnicken verließ Murat seinen Platz am Fenster. »Auf Wiedersehen. Bitte, komm mir nicht noch einmal nach.«
    Sie folgte ihm nicht. Sie blieb vor ihrem Teller sitzen, und ihre Augen brannten, als müsste sie weinen. In ihrer Brust lag ein Klumpen Blei, der immer schwerer wurde. Dann geh doch , dachte sie, geh doch! Wer braucht schon einen verdammten Schutzengel und seine neunmalklugen Pre digten?
    Sie bereute es, gebettelt zu haben. Sie bereute es, ihn mit zu sich heraufgenommen zu haben. Sie lauschte, hörte, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde, hörte wieder seine Schritte auf der Treppe. Und als sie nichts mehr hörte, sprang sie auf und lief zum Fenster.
    Unten auf dem Bürgersteig sah sie ihn mit schnellen Schritten die Straße überqueren. Ohne sich umzudrehen oder noch einmal zu ihr hochzuschauen, ging er rasch zum Platz hinauf. Sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um ihm so lange wie möglich nachzusehen. Auch an der Ecke drehte er sich nicht um.
    Erst als sie zu frieren begann, fiel ihr auf, dass er schon lange verschwunden war. Sie schloss das Fenster. Mistengel!, dachte sie. Einen Moment lang beobachtete sie die zarten Schneeflocken, die nur zu sehen waren, wenn sie in den Lichtschein der Straßenlaterne gerieten. Sie hörte das Krachen von Feuerwerkskörpern, und hin und wieder das Pfeifen einer aus den Straßen aufsteigenden Rakete.
    Der Heizkörper unter dem Fensterbrett war kaputt. An einer Stelle in der Mitte der Scheibe hatte sich an der Innenseite Frost gebildet. Mit dem Fingernagel kratzte sie etwas von der dünnen Eisschicht herunter. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die winzigen weißen Flocken, die auf das Fensterbrett fielen und dort schmolzen, das Letzte waren, was sie von Murat besaß – sein gefrorener Atem.
    Der Atem eines Engels.

    N eugierig betrachtete Dr. Rochus Schilfstengl, Präsident der Privatbank Schilfstengl & Schmalfuß Söhne, im Lager des Auktionshauses Brahms das verhüllte Objekt, von dem Emmas Vater langsam die grobwollene Decke zog. Schilfstengls Neugier verwandelte sich in Entzücken, als er das hölzerne Gesicht der Heiligen Muttergottes erblickte, die seinen Blick mit unendlicher Sanftmut erwiderte. »Madonna!«, rief er aus.
    Â»Wundervoll, nicht wahr?«, sagte Monsignore Wenzel neben ihm. »Ein echter Ignaz Günther aus seiner produktivsten Schaffensperiode um 1760.«
    Â»Darf ich sie anfassen?«, fragte Schilfstengl.
    Â»Sobald Sie die Verträge unterschrieben haben«, erklärte Julian Kant und legte einen Stapel Papiere auf den Art-déco-Tisch zu Füßen der Madonna.
    Â»Ich

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