Der Sensenmann
»Es wird dunkel«, sagte Maria Much und trat so hastig vom Fenster ihres kleines Zimmers weg, als hätte sie Angst, vom Schatten der mächtigen St. Michaelskirche erdrückt zu werden. Sie sah noch, daß sich auf ihren Handrücken eine Gänsehaut gebildet hatte.
Hinter ihr lachte Lady Sarah Goldwyn leise auf. Sie saß in einem bequemen Sessel mit hoher Lehne und wurde vom sanften Schein einer Stehlampe erfaßt, deren Pergamentschirm mit kleinen Rosen bedruckt war. »Es ist bereits dunkel, meine Liebe.«
»Ja – leider.« Maria nickte betrübt.
»Warum?«
Die siebzigjährige Witwe drehte sich vom Fenster weg. »Du weißt doch, Sarah, dann wird er kommen.«
»Noch habe ich ihn nicht gesehen.«
»Keine Sorge, er ist unterwegs.« Maria schlurfte zu einem zweiten Sessel und ließ sich seufzend hineinfallen. Danach faltete sie die Hände wie jemand, der betet. Sie schloß die Augen und hing ihren Gedanken nach, wobei sie die wohlige Wärme des Zimmers genoß, denn es war draußen plötzlich wieder kalt geworden. In den höher gelegenen Gebieten war sogar Schnee gefallen, und das im April.
Lady Sarah ließ die alte Freundin in Ruhe. Ihretwegen und auch wegen IHM war sie nach Bamberg gekommen und hatte das Altenheim hoch über der Stadt besucht. Ihre Freundin von früher lebte in diesem Heim nahe der Kirche. Seit drei Jahren hatte sie ihre Wohnung unten in der Stadt mit dem Zimmer im Altenheim vertauscht. Hier wurde für sie gesorgt, hier brauchte sie sich nicht um die Einkäufe zu bemühen und es blieb ihr erspart, die schmalen und oft steilen Wege zu gehen.
Beide Frauen hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Auf einer Urlaubsreise in den Tropen hatten sie sich kennengelernt und Freundschaft geschlossen. Einmal hatte Maria die Freundin in London besucht. Es war bei diesem einen Besuch geblieben, da sie sich in der hektischen Stadt nicht wohl gefühlt hatte.
Lady Sarah hatte es nie in das schöne – wie sie jetzt zugeben mußte – Bamberg gezogen. Doch der Kontakt der beiden Frauen war nie abgerissen. Wozu gab es die Post und auch das Telefon? So waren sie immer in Verbindung geblieben und hatten viel voneinander erfahren. Maria Much wußte sehr gut, welchem Hobby Lady Sarah frönte, denn nicht grundlos wurde sie Horror-Onia genannt.
Maria hatte sich darüber stets amüsiert, wenn sie erfahren hatte, in welch kuriose und gefährliche Abenteuer Lady Sarah oft verwickelt gewesen war. Sie selbst glaubte davon nichts. Doch ihr war das lachen dann vergangen, als ER erschienen war.
Ein Monstrum. Eine grausame Gestalt, die des Nachts durch Bamberg schlich und auch den Michaelsberg nicht verschont hatte. Angeblich hatte die Gestalt schon Tote hinterlassen. Da schwieg sich die Polizei aus. Wer immer das Thema auch erwähnte, der wurde barsch zur Seite geschoben. Was nicht sein durfte, das konnte auch nicht sein.
Und doch gab es ihn.
Maria hatte ihn gesehen. In der letzten Woche, in den letzten Tagen. Seine Sense geschultert, war er über den Kirchhof geschlichen und hatte sogar ihr Fenster passiert.
An die Polizei und auch an den Heimleiter Bobby Eberle hatte sich Maria nicht wenden wollen. Es war auch so etwas wie Jagdfieber in ihr erwacht. Seit dem Tod ihres Mannes war das Leben doch sehr eintönig geworden. Von jungen Leuten wußte siö, daß diese immer einen Kick haben mußten, um etwas zu unternehmen. Maria ging mittlerweile davon aus, daß dieser Kick nicht unbedingt altersmäßig begrenzt sein mußte, und so hatte sie ihre alte Freundin Lady Sarah angerufen, ihr alles erzählt und auf einen Besuch gehofft.
Sarah hatte sie nicht enttäuscht. Sie war in den nächsten Flieger gestiegen und hatte sich dann mit einem Taxi von Frankfurt nach Bamberg bringen lassen.
Den Tag über hatten die beiden Frauen nur geredet. Zwischendurch waren sie auf dem Hof spazierengegangen und hatten sich auch einen Wagen gemietet, um die Stadtrundfahrt genießen zu können, wobei sich die Horror-Oma besonders für ein bestimmtes Haus interessiert hatte. Es war das E.T.A. HoffmannHaus am Schillerplatz Nr. 26.
Lady Sarah wollte das Haus, das zugleich ein kleines Museum war, unbedingt noch besichtigen. Vorrang allerdings hatte ER.
»Schläfst du, Maria?«
»Nein, ich denke.«
»Woran?«
»An IHN!«
»Ah, laß das doch. Wenn er da ist, dann ist er da, und wir schauen ihn uns an.«
Maria öffnete die Augen. »Das sagst du so leicht, Sarah. Wenn du ihn wirklich siehst, bekommst du das große Zittern.«
Die Horror-Oma
Weitere Kostenlose Bücher