der Agentenschreck
er sich zu Debbys Bett.
Mrs. Pollifax schrie.
Es war nur ein leiser Aufschrei, aber er genügte. Debby setzte sich in ihrem Bett auf und knipste fast gleichzeitig die Lampe auf dem Nachtkästchen an. Der Eindringling stand
geduckt zwischen den beiden Betten und blinzelte geblendet.
Debby schrie nicht. Zu Mrs. Pollifax' Überraschung stellte sie sich im Bett auf, stürzte sich mit wildem Gebrüll auf den Mann und kollerte mit ihm zu Boden. Es war der erstaunlichste Angriff, den Mrs. Pollifax jemals erlebt hatte.
Sie rappelte sich auf, um Debby zu helfen. Debby und der Eindringling rollten zur
Zimmermitte. Das Messer blitzte in seiner Hand, und er sprang auf. Debby klammerte sich an seine Beine. Mit mehreren Fußtritten schüttelte er sie ab, rannte an Mrs. Pollifax vorbei, riß die Tür auf und floh.
Mrs. Pollifax hatte ihn noch nie vorher gesehen. Sie rechnete nicht damit, ihn im Laufe der Nacht nochmals zu sehen und wandte sich deshalb Debby zu, die auf dem Boden saß und
unter Schmerzen hin und her schaukelte.
Ihre linke Hand lag auf den Knien. Aus einer Kopfwunde lief ihr das Blut übers Gesicht.
»Allmächtiger!« stieß Mrs. Pollifax nach einem Blick auf Debbys Daumen hervor. Er war
gebrochen, und der Knochen ragte aus der Haut. »Wir müssen Sie in die Hotelhalle
schaffen, Debby«, sagte sie wild entschlossen. »Können Sie gehen? Ihre Kopfwunde muß
genäht werden, und der Daumen gehört geschient.«
»Es geht schon«, antwortete Debby halb betäubt.
»Stützen Sie sich auf mich. Und sagen Sie dem Personal, Sie seien in den Spiegel
gefallen.«
»Aber er wollte mich ermorden!« schrie Debby.
Mrs. Pollifax nickte. In der Erinnerung erlebte sie noch einmal die Schrecksekunde beim Anblick seines drohenden Messers. Am stärksten aber beunruhigte sie, daß der Mann von
Debbys Anwesenheit in ihrem Zimmer gewußt hatte. Ohne Zögern hatte er sich im Dunkeln
von Mrs. Pollifax zum anderen Bett gewendet.
Er hatte sie beide ermorden wollen.
»Ich glaube, wir sollten uns lieber nicht mit der Polizei einlassen«, sagte sie. »Haben Sie Vertrauen zu mir, ja?« Dann lief sie ins Bad. In den Spiegel über der Waschmuschel konnte man beim besten Willen nicht fallen. Aber an der Rückseite der Tür hing ein langer Spiegel.
Mrs. Pollifax faßte nach Debbys Haarbürste. Nach mehrmaligen Hieben zersplitterte das
Glas endlich. »Gehen wir«, sagte sie. Sie schleppten sich auf den Korridor. Hinter ihnen markierte eine Blutspur ihren Weg. Der Fahrstuhl brachte sie in die Halle. Seine Türen
glitten zurück, und Mrs. Pollifax trug ihre blutende Gefährtin in die Halle.
Diesmal war keine Übersetzung nötig. Der Portier brüllte, klingelte, läutete, schellte. Ein Hotelskandal ist in jeder Sprache und in jedem Lande gleichermaßen gefürchtet. Debby
wurde einem Arzt übergeben, der atemlos, ohne Gürtel und in Pantoffeln eintraf. Dann
erschien der Hoteldirektor und schließlich ein Vertreter von Balkantourist. Zum Glück war es nicht Nevena.
Es war bereits Tag, als Debbys Daumen geschient und verbunden, ihre Kopfwunde genäht
und sämtliche Fragen gestellt waren. Mrs. Pollifax hatte inzwischen längst aufgehört, über den nächtlichen Überfall zu grübeln. Wichtig war ihr im Augenblick nur, daß sie in einigen Stunden nach Tarnovo fahren sollte. Schließlich war das der Zweck ihrer Reise. »Ich möchte sprechen«, eröffnete sie dem Vertreter des Reisebüros energisch.
»Ja?«
»Ich reise heute vormittag mit dem Wagen aus Sofia ab.«
»Ja, ja, sie haben Ihren Paß schon fertig«, sagte er.
»Und das Mädchen fliegt heute vormittag aus Sofia ab —«
»Nein«, sagte der Mann von Balkantourist schlicht.
»Wie, bitte?«
»Der Doktor sagt nein. Gibt nicht nach. Das Mädchen kann nicht allein fliegen. Muß vierundzwanzig Stunden jemand bei ihr sein. Verstehen? Ist müde. Schwach. Schock. Kann
beginnen schreien, umfallen, bewußtlos sein. Braucht ein Menschen um sich. Verstehen?«
Mrs. Pollifax überlegte. Der Mann hatte natürlich recht. Andererseits konnte sie weder ihre Abreise verschieben, noch Debby allein zurücklassen. Und sie hatte keine Ahnung, was sie in Tarnovo erwartete. »Ist sie kräftig genug für eine kleine Autofahrt? Mit mir?«
Ihre Frage wurde dem Arzt übersetzt, der erfreut lächelte und nickte. Mrs. Pollifax konnte sich Mr. Eastlakes saures Gesicht vorstellen. Und Tsanko war sicher auch nicht begeistert.
An Carstairs wagte sie erst gar nicht zu denken. Aber sie konnte die Kleine
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