Der Alchimist von Krumau
nur wenig eigenen Willen und noch weniger Bewusstsein«, fuhr er fort, »sie sind wie glimmende Lichtfäden im Nebelmeer. Auf der Suche nach Madame Bianca schwimm ich in diesem Ozean von einem Fädchen zum andern, frag und frage und bekomme nur selten Antworten, die klarer wären als ein Seufzer, ein Murmeln, gewisperte Erinnerung an schattenhafte Fetzen eines halb vergessenen Traums.«
Er nahm die Pfeife aus seinem Mund und hielt sie Markéta hin.
»Warum reist Ihr nicht selbst dort umher, chère madame? Wenn Eure Frau Mutter Euch im Traum schon erschienen ist, wenn sie bereits versucht hat, Euch etwas mitzuteilen, dann werdet Ihr sie auch finden im Schattendampf. Denn dann will sie von Euch gefunden werden, und sie wird spüren, dass Ihr es seid, die dort in der Geisterwelt nach ihr sucht.«
Zögernd nahm Markéta die qualmende Pfeife entgegen. Die Versuchung war übermächtig, und was sollte ihr schon geschehen? Schließlich war auch Sargenfalt schon hundertmal, wie er selbst gesagt hatte, in die Nebelwelt gereist und wohlbehalten zurückgekehrt.
Sie sah zu Julius, der noch immer auf der Bettkante hockte und ihren Blick abwesend erwiderte. Fragend blickte sie ihn an, endlich nickte er ihr zu, und da setzte Markéta die Pfeife an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Zug.
Sie hatte auch früher schon ab und zu an Vater Sigmunds Pfeife gesogen, daher spürte sie jetzt nur ein leichtes, durchaus angenehmes Kribbeln in der Kehle, aber nicht den schwächsten Hustenreiz. Der Rauch schmeckte nach modrigen Waldfrüchten, und als sie ihn nochmals einsog, begann sich ihr Geist mit einem brodelnden Nebel zu füllen.
»Geleitet mich zu meinem Lager«, murmelte Sargenfalt. Er wirkte benommen, schwer stützte er sich mit einer Hand am Fernohr ab, und seine Linke tastete im Leeren umher. »Der Schwindel kehrt zurück.«
Markéta legte die Pfeife aufs Pult, fasste den Kranken beim Arm und führte ihn zu seinem Bett. Julius hatte sich erhoben und war zur Tür hin zurückgewichen, mit einem Kopfschütteln bedeutete sie ihm, dass von Sargenfalt heute sicher nichts mehr berichten würde. Ihre Arme und Beine fühlten sich seltsam leicht an, ihr ganzer Leib schien sich mit dem Nebel zu füllen, der von ihrem Kopf abwärts strömte.
Kaum lag der Astrolog unter seiner Sternendecke, als sich seine Lider auch schon flatternd senkten. »Bald … bald«, hörte sie ihn murmeln und beugte sich noch tiefer über ihn. »Ich komme …«, wisperte er, dann fiel sein Kopf zur Seite und er schlief so tief und fest, dass keine Befehle oder Backpfeifen ihn mehr erreichten.
Seine Seele, dachte Markéta, fliegt durchs Geistermeer.
Auch sie selbst fühlte sich so schwebend leicht wie eine körperlose Wesenheit, als sie an Julius’ Arm die Wendeltreppe hinabflog und über die nachtdunklen Burghöfe segelte, ihrem Schlafgemach entgegen und dem Nebelmeer, in dessen Tiefe Mutter Bianca auf sie wartete. Wenn sie die Augen schloss, sah Markéta die glimmenden Fäden bereits vor sich, die im Innersten des Nebels umeinander glitten, mit matten Stimmen murmelnd und wispernd.
Dass Julius sie vor der Tür zum Frauenzimmer verließ, Bronja sie auskleidete und zu ihrem Himmelbett geleitete, Flor sich schlaftrunken zur Seite rollte – all das kam Markéta schon nur noch wie ein Traum vor, unwirklich neben der seidigen Nebelwand, durch die ihre Seele bereits hindurchschwebte, noch ehe ihr Körper die ebenso seidenweiche Matratze berührte.
Sie flog durchs graue Nebelmeer, in dem Milliarden Glimmerfäden zitterten. Die Fäden waren wie Glühwürmchen, nur dass sie blasser, kälter glommen, nicht golden oder rötlich, sondern engelhaft weiß. Näherte sie sich einem Faden, so kringelte der sich zusammen und glitt davon, im nächsten Moment schon ihren Blicken entschwunden. Versuchte sie eins der Fädchen anzurufen, so erklang ein Seufzer, ein sterbensmattes Schluchzen, dann ringelte auch dieses Fetzchen sich durch den Nebel hinweg.
So war’s ihr schon als kleines Mädchen ergangen, dachte sie auf einmal, wenn sie sich im Keller unter der Badestube versteckt hatte und die Luft dort von feuchtem Dampf erfüllt gewesen war. Ein Nebelmeer, in das sich Lichterfäden woben, durch tausend hölzerne Ritzen zu ihr herab. Und Mutter Bianca rief nach ihr, mit leiser Stimme, die wie zerbrochen klang vor Angst: »Markéta! Kindlein, o mein Gott!«
Die Fäden ringelten sich vor ihr im Nebel, Markéta pustete sie an, damit sie ins Tanzen und Schwingen gerieten.
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