Der Algebraist
zur Deckenmitte
empor.
Es war tatsächlich ein Dweller-kind: ein lang gestrecktes,
deformiert wirkendes Exemplar, das für menschliche Augen eher
einem Tintenfisch als einem Mantarochen glich. Es war in Lumpen
gekleidet und mit ein paar kümmerlichen Lebensamuletten
behängt. Fassin hatte noch nie ein kind mit Kleidern oder
Schmuck gesehen. Für einen so jungen Dweller war es auffallend
dunkel. Es deutete nach innen. An einer der sechseckigen
Oberlichtscheiben befand sich eine Klinke oder ein Schloss.
Fassin beobachtete das seltsame kind eine Weile. Es wies
unermüdlich immer wieder auf die Klinke. Seit sie hier waren
hatte er im ganzen Komplex kein einziges Hauskind gesehen. Dieses
hier sah so aus, als könnte es Oazil gehören, aber er hatte
bisher kein Junges bei sich getragen und auch nicht erwähnt,
dass er eines besäße. Das kind deutete immer noch auf die
Scheibenverriegelung und machte ihm mit Gesten begreiflich, er solle
erst dagegendrücken, dann drehen und schließlich
ziehen.
Fassin öffnete die Scheibe und ließ es ein. Es schwang
sich ins Innere und machte ein Zeichen, das bei den Dwellern
vermutlich ›Pst!‹ bedeutete. Dann zog es sich zusammen,
krümmte seinen Körper, bis er wie eine Sichel aussah, und
schwebte einen Meter vor dem Bug des Pfeilschiffchens auf der Stelle.
Auf seiner Signalhaut erschien, nach allen Richtungen abgeschirmt bis
auf die Seite, die Fassin zugewandt war, eine Schrift:
OAZIL: TREFFPUNKT 2 KM GENAU NACH UNTEN, STUNDE 5. WG.
VALSEIR.
Das kind wartete, bis Fassin mit einem Lichtsignal sein Okay
gesendet hatte, bevor es durch die Öffnung im Oberlicht wieder
nach draußen huschte. Der kleine Bote streckte ein Ärmchen
nach hinten und zog die Scheibe wieder zu, dann verschwand er
zwischen den schwarzen Bibliothekskugeln in der Nacht.
Fassin nahm die Zeit. Kurz vor Stunde Vier. Er wandte sich wieder
den Texten zu, fand aber nichts und konnte sich auch nicht mehr
konzentrieren. Kurz vor Stunde Fünf ging er in Bibliothek
Einundzwanzig, schlüpfte durch die Geheimtür nach
draußen und ließ sich zweitausend Meter tief sinken. Die
Hitze stieg langsam an, der Druck wurde höher. Endlich erblickte
er den alten Dweller Oazil mit seinem Schwebekarren. Oazil
signalflüsterte:
- Fassin Taak?
- Ja.
- Womit hat Valseir einst die ’Schnellen’ verglichen?
Etwas ausführlicher, wenn ich bitten darf.
- Wieso?
Der Alte schwieg eine Weile, dann sendete er: – Du
könntest es erraten, Kleiner. Oder du sagst es mir einfach, weil
ich dich darum bitte. Einem alten Dweller zuliebe.
Fassin zögerte mit seiner Antwort. – Wolken, sendete er endlich. – Wolken über einer von unseren
Welten. Wir kommen und gehen, ein Nichts, verglichen mit der
Landschaft darunter, wie flüchtiger Dampf neben hartem Fels, der
scheinbar die Ewigkeit überdauert und immer noch da ist, wenn
die Wolken eines Tages und die Wolken eines Jahres längst
verschwunden sind. Dennoch kommen immer wieder neue Wolken, am
nächsten und am übernächsten Tag, in der nächsten
Jahreszeit, im nächsten Jahr, sie kommen, solange die Berge
existieren, und irgendwann tragen Wind und Regen auch die Berge
ab.
- Hmm, sendete Oazil. Es klang zerstreut. – Berge.
Sonderbarer Vergleich. Ich habe noch nie einen Berg gesehen.
- Ich denke dabei wird es auch bleiben. Willst du noch mehr
hören? Ich fürchte allerdings, dass mir nicht mehr viel in
Erinnerung geblieben ist.
- Nein, nicht nötig.
- Und nun?
- Valseir ist am Leben, sagte der alte Dweller. – Er lässt dich grüßen.
- Am Leben?
- Im C-2 Sturm Ultraviolett 3667 findet eine GasClipper-Regatta
statt. Sie beginnt in siebzehn Tagen.
- Das liegt in der Kriegszone, nicht wahr?
- Das Turnier war längst angesetzt, bevor die
Feindseligkeiten überhaupt zur Debatte standen, und wurde mit
den Marschällen des Formalkriegs abgesprochen. Sie haben eine
Sondergenehmigung erteilt. Komm zu diesem Turnier, Fassin Taak. Er
wird dich finden.
Der alte Dweller rotterte einen Meter vorwärts, die Leinen
seines Schwebekarrens spannten sich. – Leb wohl, Seher Taak, signalisierte er. – Bitte sei so gut und grüße
unsere gemeinsame Freundin von mir.
Damit machte er kehrt und entschwebte. Schon wenige Augenblicke
später war er bei der herrschenden Hitze und Dunkelheit mit den
meisten Passivsensoren nicht mehr wahrzunehmen. Fassin wartete, bis
er vollends verschwunden war, dann stieg er langsam wieder zum Haus
empor.
»Ach, Fassin, ich sollte dir wohl mein
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