Der Algebraist
ob wir Empfang haben.«
Irgendwo in dem verdunkelten Raum platzte eine Duftknospe, und
wenig später stieg ihm Orchidia noctisia in die Nase, ein
künstliches Aroma, das für ihn untrennbar mit dem
Herbsthaus verbunden war. Im Zimmer war es ruhig, man spürte
kaum einen Luftzug, die Knospe musste also ganz in der Nähe
gewesen sein. Er hob den Kopf ein wenig an. Zwischen dem Bett und dem
Servierwagen, auf dem man ihnen das Essen gebracht hatte, schwebte
ein winziges Gebilde, seidenweich, wie eine schlanke, durchsichtige
Blüte. Er ließ den Kopf auf Jaals Schulter
zurücksinken.
»Mmmm?«, fragte sie schläfrig.
»Hast du in der Stadt Freunde getroffen?«, fragte Fassin
und wickelte sich eine lange Locke von Jaal Tonderons goldenem Haar
um den Finger. Dann drückte er die Nase in ihren Nacken und
atmete den Duft ihrer bräunlichen Haut. Sie schmiegte sich an
ihn und beschrieb kleine Kreise mit ihren Hüften. Er hatte sich
schon vor einiger Zeit aus ihr zurückgezogen, aber die
Berührung tat immer noch gut.
»Ree, Grey und Sa«, sagte sie. Es klang ein wenig
müde. »Wir erledigten die Einkäufe. Danach waren wir
mit Djen und Sohn verabredet. Dayd war auch dabei, Dayd Eslaus. Ach
ja, und Yoaz. Du kennst Yoaz Irmin doch noch?«
Er biss sie leicht in den Nacken, und sie zuckte wie
gewünscht zusammen und schrie leise auf. »Das ist lange
her«, sagte er.
Sie streckte eine Hand nach hinten, streichelte seine nackte
Flanke und tätschelte ihm das Hinterteil. »Sie hat dich
bestimmt in lebhafter Erinnerung behalten, mein Lieber.«
»Ha!«, sagte er. »Ich sie auch.« Das trug ihm
einen Klaps ein. Sie schmiegten sich aneinander, Jaal nahm die
Hüftbewegungen wieder auf, und Fassin überlegte, ob wohl
noch Zeit für einmal Sex wäre, bevor er gehen musste.
Sie drehte sich zu ihm um. Jaal Tonderon hatte ein rundes, breites
Gesicht, das gerade noch die Bezeichnung schön verdiente. Seit
etwa zweitausend Jahren sahen die Gesichter von r-Menschen so aus,
wie ihre Träger es wollten. Wer mit seinem natürlichen
Aussehen zufrieden oder wem es gleichgültig war, der blieb
dabei, sonst wurden wunschgemäß gezielte Verbesserungen
vorgenommen. Wirklich hässlich waren nur die Menschen, die damit
irgendein Zeichen setzen wollten.
In einer Epoche, in der jedermann schön sein und/oder wie
eine bekannte historische Persönlichkeit aussehen konnte
(inzwischen gab es Gesetze, die eine allzu große
Ähnlichkeit mit zeitgenössischen Berühmtheiten
verhinderten), waren nur jene Gesichter und Körper wahrhaft
interessant, die möglichst dicht an die Grenze zur
Unscheinbarkeit oder sogar Unattraktivität herangingen, ohne sie
vollends zu überschreiten. Man unterschied zwischen Gesichtern,
die in Wirklichkeit gut aussahen, aber nicht auf Bildern, oder die
gute lebensähnliche Gemälde ergaben, aber auf dem
Bildschirm nicht wirkten, von Gesichtern, die im Schlaf ohne Reiz
waren, aber atemberaubend schön wurden, wenn sie sich mit Leben
erfüllten, oder die so lange unscheinbar blieben, bis die
betreffende Person lächelte.
Jaal war mit einem Gesicht geboren, das – nach ihren eigenen
Worten – wie ein Gemeinschaftsentwurf aussah: ein wenig
harmonischer Flickenteppich, dessen Einzelteile nicht so ganz
zueinander passen wollten. Doch ihre Physiognomie, ihr Charakter und
ihre Ausstrahlung wirkten auf so geheimnisvolle Weise zusammen, dass
sie fast jeder, der sie kennen lernte, unwiderstehlich fand. Fassin
war insgeheim der Meinung, Jaal müsse erst in ihr Gesicht
hineinwachsen und würde in reiferen Jahren noch schöner
sein als jetzt. Nicht zuletzt deshalb hatte er um ihre Hand
angehalten.
Fassin hatte allen Grund zu glauben, dass sie ein langes
gemeinsames Leben vor sich hatten. Es war sinnvoll, sich eine
Partnerin aus dem gleichen beruflichen Umfeld zu wählen –
noch dazu, wenn die Partie die Bande zwischen den beiden wichtigsten
Seher-Häusern stärken sollte und von beiden Septen freudig
begrüßt wurde – und es war nur vernünftig, auch
die Aussicht auf Langlebigkeit mit ins Kalkül zu ziehen.
Natürlich wäre die gemeinsame Zukunft für zwei
›Langsamen‹-Seher wie Fassin und Jaal objektiv, wenn auch
nicht subjektiv länger als für die meisten ihrer
Zeitgenossen, und ihr Leben verliefe radikal anders. Ein Seher, der
ausgedehnte Trips in verlangsamter Zeit machte, alterte nur sehr
allmählich. Onkel Slovius blieb mit seinen vierzehnhundert
Jahren unter dem Rekord und war auch (natürlich ein Glück)
noch nicht am
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