Der Algebraist
Ende seines Lebens angelangt, doch sein Alter sollte
sich unschwer übertreffen lassen. Ehegatten und Liebespartner
von Sehern mussten die Phasen verlangsamter und normaler Lebenszeit
sorgfältig planen, denn wenn sie aus dem Takt gerieten, drohte
die emotionale Entfremdung. Tchayan Olmey, Fassins alte Mentorin und
Lehrerin, war durch eine solche Diskontinuität unversehens aus
der Bahn geworfen und von ihrer alten Liebe getrennt worden.
»Was hast du?«, fragte Jaal.
»Es ist nur diese…, äh… diese
Besprechung.« Er warf einen Blick auf die antike Uhr an der
gegenüberliegenden Wand.
»Mit wem bist du denn verabredet?«
»Kann ich dir nicht sagen«, wehrte er ab. Als Jaal am
Haushafen unten im Tal aus ihrer Suborbitalfähre gestiegen war,
hatte er erwähnt, dass er später noch einen Termin
hätte, aber sie hatte über dem neuesten Klatsch aus der
Hauptstadt und über der Geschichte des Skandals um ihre Tante
Feem und den Jungen aus dem Sept Khustrial vergessen, sich genauer
danach zu erkundigen. Und nachdem sie geduscht und mit ihm zu Abend
gegessen hatte, waren andere Dinge wichtiger gewesen.
»Du kannst es mir nicht sagen?« Sie runzelte die Stirn,
rückte noch näher an ihn heran, hob eine ihrer
dunkelbraunen Brüste an und legte sie auf seinen
hellhäutigen Oberkörper. Nicht zum ersten Mal stellte er
fest, dass ein Warzenhof, der heller war als seine Umgebung, einen
ganz besonderen Reiz hatte… »Oh Fass«, sagte Jaal. Es
klang verärgert. »Es ist doch hoffentlich kein
Mädchen? Eine von den Dienerinnen vielleicht? Verdammt,
fängt das etwa schon an, bevor wir verheiratet
sind?«
Sie lächelte. Er grinste zurück. »Es ist
lästig, aber es muss sein. Tut mir Leid.«
»Du kannst es mir wirklich nicht sagen?« Sie drehte den
Kopf, ihr blondes Haar fiel ihm auf die Schulter. Es fühlte sich
noch besser an, als es aussah.
»Wirklich nicht«, beteuerte er.
Jaal starrte unverwandt auf seine Lippen. »Wirklich
nicht?«, wiederholte sie.
»Nun ja.« Er fuhr sich mit der Zunge über die
Zähne. »Ich kann dir immerhin verraten, dass es kein
Mädchen ist.« Ihre Augen wichen nicht von seinem Mund.
»Hör mal, Jaal, habe ich vielleicht irgendetwas zwischen
den Zähnen?«
Ihre Lippen berührten schon fast die seinen. »Noch
nicht«, murmelte sie.
»Sie sind Fassin Taak vom Seher-Sept Bantrabal, Mond
’glantine, Gasriesenplanet Nasqueron, Sonne und System
Ulubis?«
»Das ist richtig.«
»Sie sind körperlich anwesend und werden nicht durch
eine Projektion oder Repräsentation irgendwelcher Art
vertreten?«
»So ist es.«
»Sie sind nach wie vor als ›Langsamen‹-Seher aktiv,
haben Ihren Wohnsitz in den Jahreszeitenresidenzen des Sept Bantrabal
und arbeiten vom Satellitenmond Third Fury aus?«
»Ja, ja und ja.«
»Gut. Fassin Taak, alles, was zwischen Ihnen und diesem
Konstrukt gesprochen wird, unterliegt strengster Vertraulichkeit. Sie
verpflichten sich zu strikter Geheimhaltung und werden von dem, was
hier zur Sprache kommt, nur so viel nach außen tragen, wie
unerlässlich ist, um Ihnen den Weg frei zu machen für alle
Aktivitäten, die man von Ihnen erwartet, und alle Ziele, die man
Ihnen setzt. Haben Sie das verstanden und willigen Sie ein?«
Fassin überlegte. Als die leuchtende Kugel zu sprechen
anfing, hatte sie ihn im ersten Moment an ein Plasmawesen erinnert
(nicht dass er jemals einem begegnet wäre, aber er hatte Bilder
gesehen), und dieser Gedanke hatte ihn so sehr beschäftigt, dass
er das Gesagte nicht voll hatte aufnehmen können.
»Eigentlich nicht. Bedaure, ich möchte
nicht…«
»Wiederholung…«
Fassin befand sich im Großen Audienzsaal im obersten
Stockwerk des Herbsthauses, einem großen, kreisrunden Raum, der
in der Horizontalen Ausblicke nach allen Seiten gestattete und ein
riesiges transparentes Dach besaß. Jetzt waren alle Fenster
undurchsichtig. Das Mobiliar beschränkte sich im Moment auf
einen einzelnen Stuhl für ihn und einen kurzen Zylinder,
vermutlich aus Metall, über dem eine Kugel aus leuchtendem Gas
schwebte. Von dem Zylinder führte ein fettes Kabel zu einer
Bodenklappe in der Mitte des Raumes.
Die Gaskugel wiederholte ihre Belehrung. Diesmal sprach sie
langsamer, zeigte aber erfreulicherweise keine Spur von Gereiztheit
oder Herablassung. Die Stimme war flach und akzentfrei, verriet aber
doch einen Anflug von Persönlichkeit, als hätte man
Stimmproben von einem bestimmten Individuum genommen und den Ausdruck
nur unvollständig eliminiert.
Fassin
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