Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Algebraist

Der Algebraist

Titel: Der Algebraist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
Vom Netzwerk:
alle Schiffe, Habitate und anderen
Gemeinschaftseinrichtungen als legitime Ziele betrachteten, dann
wollte sie den Tod dort erwarten, wo er wenigstens irgendeinen Sinn
hätte. In diesem Habitat, diesem hohlen Klumpen
Asteroidengestein, diesem rotierenden Bezugsrahmen sollte sich der
Kreis schließen, sie würde ihre Existenz an dem Ort
beenden, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war.
    Sie war in ihrem Leben so vieles gewesen, hatte ein halbes Dutzend
Mal den Beruf gewechselt und sich für immer neue Dinge
interessiert und begeistert. Sie hatte zahlreiche Liebhaber gehabt,
zwei Ehemänner und zwei Kinder, doch alle waren längst ihre
eigenen Wege gegangen, und obwohl sie es als etwas egoistisch
empfand, zum Sterben hierher gekommen zu sein, hatte sie doch auch
das Gefühl, allen, die sie liebte oder einmal geliebt hatte,
damit einen Gefallen zu tun. Wer wollte denn tatsächlich mit ansehen, wie sie dahinsiechte?
    Selbst wenn einer behauptete, er wäre am Ende gern bei ihr
gewesen, es wäre nicht wirklich die Wahrheit.
    Sie war also in das gute alte Happy Hab zurückgekehrt –
das leider nicht mehr so fröhlich, so voller Leben oder so
unkonventionell war wie früher –, um hier zu sterben. Aber
sie hatte allein und in Frieden sterben wollen, in ein oder zwei
Jahren, nicht zusammen mit so vielen Menschen, durch einen Gewaltakt
und nur wenige Monate nach ihrer Ankunft.
    Der Hierchon Ormilla befand sich auf Nasqueron im Exil. Der neue
Machthaber, dieser Archimandrit Lusiferus, wollte, dass der Hierchon
kapitulierte. Der Hierchon weigerte sich. Der Archimandrit wollte
sich die Dweller nicht zum Feind machen und wagte nicht, auch
Nasqueron kurzerhand zu überfallen oder zu erobern – die
Dweller, die alle Welt für exzentrische Chaoten und technische
Analphabeten hielt, waren erstaunlich gut imstande, sich ihrer Haut
zu wehren – und so herrschte ein Patt. Dieser Lusiferus konnte
nicht hinein, und Ormilla kam nicht heraus.
    Nun drohte der Archimandrit, jeden Tag eine Stadt oder ein Habitat
zu zerstören, bis der Hierchon in aller Form kapitulierte und
sich den Besatzungstruppen auslieferte. Und falls Ormilla nicht nach
zwei Tagen aufgab, wollte Lusiferus stündlich eine Ansiedlung
vernichten.
    Gerüchten zufolge war tags zuvor Afynseise zerstört
worden, eine kleine Küstenstadt in Poroforo, Sepekte, doch da
das Habitat seit drei Tagen unter einer Nachrichtensperre stand,
konnte das niemand bestätigen.
    Hab 4409 hatte etwa achtzigtausend Einwohner und war damit eines
von den kleineren Weltraumhabitaten. Es stand auf der Liste der als
Geiseln geeigneten Bevölkerungszentren auf Platz zwei, und das
Ultimatum lief in wenigen Minuten um Mitternacht ab. Von Ormilla
hatte man nach einem trotzigen Kommuniqué am frühen
Nachmittag nichts mehr gehört. Seit vor zwei Tagen das Ultimatum
des Archimandriten bekannt gegeben worden war, hatten die
Hungerleider in der Nähe ein Kriegsschiff stationiert und nichts
und niemandem erlaubt, das Habitat zu verlassen – oder zu
betreten. Einige Schiffe, die zu starten versuchten, waren
zerstört worden. Alle Bitten, Kinder, Kranke oder die
kollaborierenden Zivilbehörden zu evakuieren, waren auf taube
Ohren gestoßen. Man hatte sogar erklärt, wer die
Zerstörung des Habs in einem Raumanzug oder einem Kleinschiff
überlebte, sollte in den Trümmern niedergeschossen werden.
Niemand bezweifelte, dass der Archimandrit zu seinem Wort stehen, und
kaum jemand glaubte, dass der Hierchon so leicht nachgeben
würde.
    Thay ließ die Hände los, die sie umschlossen hielt
– ein welkes Blatt, das von einer Blüte aus vorwiegend
jungen und schönen Menschen abfiel –, bückte sich mit
schmerzendem Rücken, zog sich die Schuhe aus und stieß sie
von sich. Dann legte sie ihre Hand wieder auf die anderen im Zentrum
des Kreises. Das Gras unter ihren Füßen war kühl und
feucht.
    Viele Menschen sangen jetzt, die meisten ganz leise.
    Viele verschiedene Lieder.
    Einige weinten, andere schluchzten, manche heulten und schrien
laut, aber die waren fast alle weit weg.
    Und jemand war so makaber, die Sekunden zu zählen.
    Dann war es Mitternacht, und Sekunden später fuhr, kaum
fünfzig Meter von Thay entfernt, ein mächtiger, blendend
heller Lichtstrahl mit lautem Krachen genau ins Zentrum des Habitats.
Sie musste die Hände der anderen loslassen, um sie vor die Augen
zu halten; alle taten das. Ein heißer Wind riss sie von den
Beinen und schleuderte sie mit Hunderten von anderen ins Gras. Gleich
darauf

Weitere Kostenlose Bücher