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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Müdigkeit. In den Beinen wie im Kopf. Und ließ mich in den anderen weichen Fauteuil sinken. Im gekreuzten Licht der Kerzen und meiner Stirnlampe sah ich den Staub hochsteigen, Bergstaub, der hier quasi Wohnungsstaub war. Meine Nase kitzelte, und ich mußte niesen. Endlich schaltete ich meine Stirnlampe aus und schloß die Augen.
    »Nur ganz kurz«, sagte ich mir, wie man sich das oft sagt, bevor man in den Schlaf fällt wie eine Kuh, die aus einer dieser russischen Transportmaschinen fällt, aber eben nicht auf einem japanischen Walfangschiff landet, sondern ins Meer stürzt, ein wenig umhertreibt, um dann erneut abzusinken, in die Tiefsee zu gleiten, ins absolute Dunkel: eine tote Kuh, umgeben vom Blitzlichtgewitter jagender Anglerfische. So war das mit dem Schlaf, dem die Phrase Nur ganz kurz! vorausging.
    Ich erwachte in einem Traum und war mir dessen augenblicklich bewußt, obgleich ich mich genau dort befand, wo ich auch schlief: im Fauteuil dieses gehöhlten Nazikabinetts. Nur daß der andere Sessel leer und Simon auch sonst nirgends zu sehen war, soweit ich etwas erkennen konnte. Denn es war jetzt ungemein warm und feucht und selbst im Traum nur schwer auszuhalten. Der Schweiß klebte dick und saftig auf meiner Haut, selbst über den Augen, so daß es mir vorkam, als würde ich die Umgebung durch Aspik betrachten. Und durch dieses Gelee hindurch realisierte ich, allein zu sein. Wobei es aber nicht blieb. Endlich erkannte ich die verschwommene Gestalt, die im Torbogen stand. Indem sie näher kam, löste sich auch die Sülze von meinen Augen und meiner Haut, es wurde endlich kühler, auch trockener, und ich sah nun in das Gesicht …
    »Astri?« stieß ich hervor.
    Wenn es Astri war, dann war sie um einiges älter als damals, als sie gestorben war.
    Ich fragte noch einmal: »Astri?«
    »Ja«, sagte sie. »Hallo, Bruderherz.« Auch ihre Stimme hatte sich verändert, war reifer geworden, besaß eine Oberfläche von Grau, silbrig, wie von einem Bleistift, mit dem jemand über ein weißes Papier schrubbt und auf diese Weise die durchgedrückten Stellen sichtbar werden läßt. Denn das macht ja das Alter mit uns: die gelebten Jahre sichtbar und hörbar werden zu lassen. In den frühen Jahren ist das Leben eine Zeichnung, die verfliegt. Sich aber durchdrückt. Das Durchgedrückte ist später unser Gesicht. Der Graphit macht die Falten sichtbar. Und auch unsere Stimmen haben Falten.
    Stellte sich freilich die Frage: Altern denn die Toten?
    Andererseits war es nicht das, worüber ich unser Gespräch beginnen wollte. Immerhin war es das erste Mal seit ihrem Tod, daß mir Astri begegnete. Da sagte man nicht: »Meine Güte, bist du alt geworden.« – Soweit ich mich erinnern konnte, war sie mir nie zuvor im Traum erschienen. Etwas, was mich durchaus beschäftigt hatte, nicht in den Träumen selbst, aber hinterher.
    Ich sagte: »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
    »Ja, Sixten. Früher ging nicht.«
    »Bist du … wirklich … ich meine …«
    »Ja, ich bin tot. Und ich bin keine Einbildung.«
    »Aber das hier ist doch ein Traum, nicht wahr?« stellte ich den Ort unserer Begegnung fest, damit auch die Möglichkeit des Unwirklichen.
    »Weißt du«, sagte Astri, »wenn man tot ist, und das bin ich ja, gibt es zwei Wege: Man kann sich von den Lebenden entfernen oder unter ihnen bleiben.«
    »Und du hast dich also fürs Hierbleiben entschieden?«
    »Das kann man sich nicht aussuchen«, erklärte Astri. »Alle, die als junge Leute oder auch nur als Mittelalte sterben, bleiben. Nur wenn du richtig alt stirbst, gehst du weg. Die Jungen aber nicht. Das ist eigentlich umgekehrt zur realen Welt, wo ja in der Regel die jungen Leute wegziehen.«
    Astri ergänzte, welche Illusion es sei, sich vor seiner Zeit umzubringen, in der Hoffnung, dem Leben zu entgehen. Denn man müsse seine Zeit quasi »absitzen«, und sei es als Geist, der durch die Träume der Lebenden wandert.
    Ich fragte sie: »Und wo wandert man sonst noch so als Geist?«
    »Nirgends. Allein in den Träumen. Außerhalb der Träume ist es so, daß man die meiste Zeit bewußtlos ist.«
    »Du meinst, auch die Toten schlafen und träumen?«
    »Nein, wir treiben dahin, ohne Gedanken, ohne Bilder im Kopf. Wir geben bloß hin und wieder ein Schnaufen oder Stöhnen von uns oder knirschen mit den Zähnen. Das sind dann genau die Geräusche, von denen die Lebenden meinen, es handle sich um einen Spuk. Ist ja auch einer. Aber nicht viel mehr als ein Atemwind oder Räuspern.

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