Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Bundesheer angetreten, eine letzte Bereinigung vorzunehmen, indem man die bei der Nockeralm gelegene Aufbereitungsanlage sprengte. Die Namen der Menschen, die man unter Zwang hierhergebracht hatte, um unter extremen, mitunter todbringenden Mühen in den Berg einzudringen, waren quasi mitgesprengt worden.
»Na und!« könnte ein Zyniker sagen. »Die Leute, die beim Bau heutiger Hochhäuser und Staudämme und Tunnels beteiligt sind, kennt man ebensowenig beim Namen, oder? Und die sind nachher auch nicht alle gesund und fröhlich.«
»Die werden aber nicht gezwungen.«
»Nein? Wirklich nicht?«
Als die Wirtin gegangen war, sah ich auf die Uhr. Es war vier Uhr am Nachmittag, der Tag lange nicht vorbei. Wir hatten Ende August, und die Sonne würde erst um acht untergehen. In solcher Höhe konnte man ihr Abtauchen auch wirklich beobachten, nicht bloß ahnen, weil irgendeine Häuserwand rötlich schimmerte.
Ich beschloß, noch ein wenig nach oben zu marschieren. Näher an Astris Berg zu geraten.
Kerstin staunte. »Bist du gar nicht erschöpft?«
»Nein. Eher etwas aufgedreht. Vielleicht so eine Art Höhenrausch.«
»Na, ich jedenfalls bleibe hier«, sagte Kerstin. Sie wollte den Rest des Tages auf der Terrasse zubringen und in einem Buch lesen. Als sie bereits darin versunken war und ich in ihrem Rücken stand, konnte ich für einen Moment die Bleistiftkritzeleien sehen, die den gesamten Rand der Buchseite schmückten. Kritzeleien von ihrer Hand, der frühpensionierten Künstlerin. Was auch sonst? Sehr fein, fadenförmig, ein Gewebe, das sich an manchen Stellen zusammenzog, dunkel wurde, dicht, eine Gestalt entwickelte, aber nie konkrete Züge annahm, wie man sagt, ein Gesicht oder ein Tisch seien konkret. Floral, aber geometrisch floral: Man stelle sich vor, ein Geometriebuch könnte blühen. – Nicht, daß ich viel hatte sehen können, aber es erinnerte mich doch recht stark an die Zeichnungen, die Simon anzufertigen pflegte. Freilich stellt die Parallele zwischen Kind und Künstler heutzutage einen Allgemeinplatz dar.
Einerseits.
Andererseits … ich kehrte zurück, um nochmals Kerstin über die Schulter und ins Buch schauen zu können.
Sie wandte sich abrupt um. »Was ist denn?«
»Gar nichts. Ich wollte dir nur noch einen Kuß geben.«
Sie klappte das Buch zu und beugte sich zurück. Ich drückte meinen Mund auf ihre Stirn. Es zischte ein bißchen, so feucht waren meine Lippen und so sehr glühte ihre Haut von der niederbrennenden Sonne. Man könnte auch sagen, es zischte, weil dieser Kuß eine Lüge war, denn meine Augen waren auf das Buch gerichtet. Irgendein Krimi, was mich ziemlich enttäuschte. Banales Zeug. Allerdings war es mir gelungen, vor dem Zuklappen noch einen weiteren kurzen Blick auf das kunstvolle Gekritzel zu erhaschen, einen Blick, der meinen ersten Eindruck nicht nur bestätigte, sondern auch verstärkte. – Total simonlike!
Nun war freilich nicht auszuschließen, daß es ja auch tatsächlich Simon gewesen war, von dem das hier stammte, etwa, weil Kerstin ihm erlaubt hatte, in diesem in jeder Hinsicht billigen Taschenbuch seine graphischen Kürzel zu verewigen.
Wenn aber nicht?
War es nicht Kerstin gewesen, die mit aller Kraft – und möglicherweise mit diversen illegalen Tricks – die Ausreise Simons aus Taiwan betrieben hatte? So wie seine Adoption durch mich? Und noch was: Vor Kerstin auf dem Tisch lag zwischen ihrem Halstuch und dem Brillenetui ein Bleistift.
Während ich da meine Lippen wieder von ihrer Stirn löste, stellte ich mir vor, daß Kerstin durchaus in der Lage war, Simon zu verstehen und zu begreifen. Stellte mir vor, die beiden würden über ein gemeinsames System von Zeichen verfügen. Und daraus folgend auch über eine gemeinsame Sprache. Gleich zwei alten Tirolern.
Ich grinste ob solcher Gedanken.
»Was grinst du so?« fragte Kerstin, die noch immer ihr Gesicht nach hinten gerichtet und das Buch geschlossen hatte.
»Ich dachte mir grad«, sagte ich, »daß du also doch zeichnest. – Ich meine, weil dort ein Bleistift liegt.«
»Den hat mir dein Sohn geliehen.« Und dann sagte sie: »Geht endlich los, damit es nicht zu spät wird.«
»Du weichst mir aus.«
Sie sagte »Ja« und vollzog mit ihrer Hand die wegwerfende Bewegung eines Verkehrspolizisten. Als schmeiße sie mich aus ihrer Wohnung.
Ich machte mich mit Simon auf den Weg in Richtung zur sogenannten Alpeiner Scharte. Vor uns Astris Berg, dessen Wände im Wechsel von Sonnenlicht und rasch
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