Der Allesforscher: Roman (German Edition)
aus einer Artistenfamilie. Welche mit mir ihr Ende nimmt. Wie die ganze Profession, die ich treibe. Es ist schon peinlich, diese Leute zu unterrichten, anstatt sie zu unterhalten. Zu den Krankheiten unserer Zeit gehört, daß die Menschen alles selbst machen wollen.«
»Warum treten Sie denn nicht mehr auf?«
»Ich bin jetzt sechsundsiebzig und habe mein ganzes Leben lang nie einen Punkt getroffen, den ich nicht auch hatte treffen wollen. Das soll so bleiben und bleibt auch so. Aber es ist eine Sache, Kunst zu tun, eine ganz andere, dabei vor einem Publikum zu stehen. Im Publikum, in einem jeden Publikum, sitzen Leute, die wollen partout, daß etwas schiefgeht, daß ein Elfmeter verschossen wird, der Pianist neben die Taste greift, die Sängerin sich verschluckt und der Messerwerfer den Arm seiner Assistentin trifft. Gegen diese Leute – gegen den Geist dieser Leute – muß man ständig ankämpfen. Man ist nicht auf die konzentriert, die sich freuen ob der Vorstellung, sondern auf die anderen: die Feinde, die Sadisten, die Kritiker. Glenn Gould nannte es ›eine Kraft des Bösen‹. Er hat zu Recht behauptet, im Konzertsaal würde der Lynchmob regieren. Und genau dafür, den Lynchmob in seine Schranken zu weisen, fehlt mir die Kraft. Außerdem wollen die Menschen heutzutage ohnehin ganz andere Sachen sehen. Ich müßte mit lebenden Haien werfen oder das halbe Europäische Parlament auf eine Zielscheibe binden. Die Zuseher verlangen nach Illusionisten oder Terroristen. Das ist es, was sie begeistert.«
Ich wendete ein, daß die Menschen, die er unterrichtete, doch auch eine Art von Publikum seien.
Er entgegnete: »Die suche ich mir einzeln aus. Und scheide die Böswilligen aus. Hier kann ich das, nicht aber, wenn ich auf einer Bühne stehe.«
»Würden Sie mir das auch mal zeigen, wie Sie werfen?«
»Sie meinen, ich könnte Ihnen trauen?«
Ich lachte ihn an und sagte: »Ich gehöre zu den Guten, ehrlich. Der böse Geist, der einmal in mir steckte, ist verschwunden. Sogar aus meinen Träumen.«
Er nickte in der gleichen knappen, eigentlich nur das Kinn bewegenden Weise wie Little Face früher. Also verließen wir das Gebäude und spazierten ein Stück bergauf. Bei einer Bank angekommen, wies mich Mercedes an: »Setzen Sie sich, und bleiben Sie ganz ruhig sitzen.«
»Werden Sie auf mich werfen?« fragte ich, während ich Platz nahm und meine gestreckten Arme rechts und links über die Oberkante der Rückenlehne spannte.
»Im Grunde«, sagte Mercedes, »geht es darum, nicht danebenzuwerfen. Ich meine, man darf sich nicht auf die Person konzentrieren, die man verfehlen möchte, sondern auf das Stück Holz, das man nicht verfehlen möchte. Um so wichtiger, daß die Person vollkommen ruhig bleibt und nicht etwa mit dem Bestimmungsort darum konkurriert, ein Ziel abzugeben.«
Es versteht sich, daß ich mich keinen Millimeter rührte, nur insofern, als mein Brustkorb beim Atmen auf und ab ging, aber sonst nichts von mir.
So schnell, wie nun alles ablief, konnte ich wirklich nicht sagen, wo Mercedes sein Messer hervorgezogen hatte – vielleicht aus der Hose, vielleicht aus dem Ärmel seiner Jacke –, erkannte allein die Bewegung, mit der er das Wurfobjekt kreiselnd in die Höhe beförderte. So, als werfe er eine Bocciakugel.
Mit einem kleinen Geräusch – als sage das Holz Autsch! – landete das Messer mit seiner Spitze auf der Sitzfläche der Bank. Rechts neben meinem Schenkel, keine zehn Zentimeter entfernt. Da ich mit den Beinen leicht gespreizt saß, wäre Mercedes ebenso in der Lage gewesen, das Messer zwischen meinen Beinen, in unmittelbarer Nähe meines verletzlichen Geschlechts, aufkommen zu lassen. Darauf aber verzichtet zu haben zeigte seine Meisterschaft. Meister protzen nicht, und sie versetzen nicht in Schrecken. Sie verblüffen.
Und in der Tat war ich verblüfft. Ich sagte: »Gut, daß ich mich nicht bewegt habe.«
»Gut, daß Sie folgen können.«
»So«, sagte ich, »und jetzt zeigen Sie mir, wie Sie das machen.«
»Nicht so gerne.«
»Sie haben es mir versprochen.«
Mercedes aber erklärte, daß zum Messerwerfen ein idealer Werfer genauso gehöre wie ein idealer Assistent, obgleich es meistens Assistentinnen seien, jedenfalls Personen, die vor dem eigentlichen Ziel posierten oder im Falle einer rotierenden Scheibe sich festschnallten und dem Publikum – dem Lynchmob und den anderen – die Möglichkeit eines Nervenkitzels bescherten. Ein Bild erfüllend, das Bild von der
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