Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Blindgänger!«
Glocken wendet ein, Mr. Tenny sei etwas streng zu sich selbst, um in der Folge zu behaupten, es sei komisch, daß die Menschen ihre wirklichen Fehler nicht erkennen, aber ihre kleinen Schwächen furchtbar aufbauschen würden. »Zum Beispiel, es gibt auf der Welt sicherlich ca. 873 Millionen Menschen, die keine Ahnung haben, was ein abgefälschter Ball in der Außenecke ist. Ich halte es für außerordentlich übertrieben, daß Sie glauben, ein Blindgänger zu sein, nur weil Sie einen Ball nicht treffen konnten, abgefälscht oder nicht. – Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mr. Tenny?«
Lee Marvin als Tenny betrachtet mit herabgezogenen Mundwinkeln den kleinen Mann, und zwar unglaublich lange, mit dem Gesichtsausdruck eines Vollidioten, ohne etwas zu sagen. Endlich meint er: »Nein.« Um gleich darauf anzuschließen: »Wissen Sie, was ich glaube?«
Jetzt ist es der Zwerg, der lange schweigt, genauso lange, schließlich schluckt und sagt: »Nein.«
Woraufhin der Baseballer Tenny erklärt: »Ich halte Sie für einen zu kurz geratenen Intellektuellen.«
Nach einer kurzen Pause verfallen beide in ungehemmtes Gelächter.
Ich lachte nicht, aber ich spürte das Lachen tief in mir. Diese zwei Filmszenen, zuerst der Kuß, dann der abgefälschte Ball in die Außenecke, erschienen mir als eine vollkommene Beschreibung der Welt. Ich fühlte mich getroffen. Das Messer dieses Films steckte in meiner Brust und machte mich traurig. Traurig und fröhlich.
Vor lauter abgefälschten Bällen, die unter unseren Schlägern wegtauchen und uns, die wir in allen möglichen Außenecken stehen, blöd aussehen lassen, erkennen wir das richtige Leben nicht. Wie recht doch dieser Zwerg hatte. Und wie wenig sich daran ändern würde, daß er recht hatte, weil abgefälschte Bälle in Außenecken über ein realpolitisches Privileg verfügen. Sie kosten Karrieren, Vermögen oder die Ehre.
»Was ist mit dir?« fragte Kerstin.
»Hast du grad gesehen? Lee Marvin und davor Oskar Werner.«
Kerstin, die mit dem Rücken zum Fernseher saß und sich die ganze Zeit mit einem jungen Bergsteiger unterhalten hatte, fragte: »Lee wer? Meinst du Lee Pace, der den Elben-könig im Hobbitfilm spielt? Und wer ist Werner?«
Wie bezeichnend für uns beide. Nicht, weil ich so viel wußte und sie so wenig. Sondern immer der eine etwas, was der andere nicht kannte. Ich eben alte Schauspieler und sie neue, ich die Toten und sie die Lebenden. Vom neuen Hobbitfilm wußte ich sowenig wie darüber, wer letztes Jahr den luxemburgischen Thronfolger geheiratet hatte. Es gab Bereiche, da war ich eher fünfzig oder hundert als die tatsächlichen sechsunddreißig. Ja, es war überhaupt so, daß ich von dem Moment an, als ich praktisch Asien und Köln und die große weite Welt aufgegeben hatte, um nach Stuttgart zu ziehen – und als ich vom Manager zum Bademeister gereift war, vom Kinderhasser zum Mustervater –, eineinhalb Jahrzehnte übersprungen hatte. Ich glich nun tatsächlich mehr einem Fünfzigjährigen, trotz meiner guten Figur … Oder anders gesagt, ich war wie diese Fünfzigjährigen, die wieder mit dem Sport angefangen hatten und ihrem drohenden Ende mit einer Idealfigur trotzten, und welche gerne erklärten, vor zehn, zwanzig Jahren lange nicht so gut in Schuß gewesen zu sein.
Zwischen mir und Kerstin lagen also nicht nur die rechnerischen zehn Jahre Unterschied, sondern eigentlich fünfundzwanzig Jahre, ein Zeitraum, der sich für die bekannte Du-könntest-meine-Tochter-sein-Floskel eignete.
Natürlich hätte man auch sagen können, daß Kerstin und ich uns ergänzten. Aber es war eben kein Ergänzen, sondern ein oftmaliges Mißverstehen. Wir befanden uns jeweils in der anderen Gruppe von 873 Millionen Menschen. Unsere Liebe war ein Dennoch.
Kurz nach elf gingen wir in unser Zimmer. Alle drei.
Das Beste war, daß hier in der Hütte, am Berg, in den Ferien, Simon zwischen uns im Bett lag. Ich spürte und roch den Jungen, und Kerstin praktisch durch den Filter des Jungen. Auch Menschen konnten Filter sein, selbst in einem optischen Sinn. So gut Humphrey Bogart grundsätzlich ausgesehen hatte, hatte er noch viel besser gewirkt, wenn er hinter Lauren Bacall gestanden hatte: metallischer, edler.
Und das galt eben auch für Kerstin. Im Weichzeichner Simons war sie doppelt so schön.
Der Anblick tat gut.
Weniger gut tat der Traum, den ich in dieser Nacht hatte und der nun absolut kein Beweis dafür war, daß meine Traumwelt eine
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