Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Banausen zu verschaffen. Jedoch nicht auf die simple Art purer Nachmalerei der Natur. Denn auch in dieser Zeichnung stach die Kunst heraus – als ein Untoter, aber ein schöner Untoter. Die Zeichnung zeigte, wie sich das Licht der Sonne in den Gegenständen der Natur eine Oberfläche suchte, um sichtbar zu werden. Und sich dabei auch des Artefakts einer Nationalflagge bediente.
Das alles war verblüffend, vor allem natürlich auch wegen der Plötzlichkeit, mit der es geschehen war. Wie damals, als der Junge das erste Mal eine Kletterwand hochgestiegen, vielmehr hochgelaufen war.
»Schau dir das mal an«, sagte ich zu Kerstin, die sich herüberbeugte. Aber jetzt war es Simon, der den Block zuklappte und die Ansicht verbarg. Womit ich nicht gerechnet hatte, doch offensichtlich besaß Kerstin zwar das Privileg, sich Bleistifte ausborgen zu dürfen, aber nicht das der Betrachtung. Zumindest nicht in diesem Moment.
Ich fragte mich, ob das früher auch schon so gewesen war, daß Simon seine Zeichnungen Kerstin vorenthalten hatte.
Ich war mir wirklich unsicher.
In jedem Fall, es tat mir gut. Das ist nun mal nicht zu ändern, egal, wie aufgeklärt wir uns als Eltern geben und ständig behaupten, es sei völlig okay, wenn die Kinder ihre Liebe verteilen und unterschiedlich ausdrücken. Die Wahrheit ist doch die: Sobald sich das Baby, das Kleinkind, der junge Mensch, schlußendlich der alte Mensch, wenn dieser noch immer unser Sohn oder unsere Tochter ist, an uns schmiegt und nicht an den anderen, tut uns das nicht nur gut, sondern wir erleben es als Triumph. Die Erwachsenen sind die wahren Kinder.
Obgleich diese Zeichnung jetzt unter dem Deckblatt des Blocks verschwunden war, so war es doch meine Zeichnung. Ich lächelte. Kerstin sah scharf zu mir herüber.
Den Nachmittag verbrachten wir zu dritt – ohne Bevorzugungen und scharfe Blicke – auf der Terrasse. Gegen vier kam eine größere Gruppe an, die sich über mehrere Tische verteilte.
Ich kann sagen, daß ich immer für die Zahl drei geschwärmt habe. Als Kind etwa sagte ich beim Beten immer dreimal amen. Und wenn ich jemanden verfluchte, dann stets in einer dreifachen Steigerung. Der Spruch von wegen, aller guten Dinge seien drei, entsprach ganz meiner Vorstellung und Idealwelt. Wenn in einer Reihe nur zwei gute Dinge standen, empfand ich es als ein schlechtes Omen.
Nach dem »traumhaften« Erscheinen Astris und der wundersamen Zeichnung Simons entsprach es somit der von mir bevorzugten Tripelform, daß sich unter den neuen Gästen ein Mann befand, der vollkommen meiner Erinnerung an den Allesforscher, an Little Face, entsprach.
Natürlich war er es nicht. Dies hier war kein Traum. Abgesehen davon, daß Little Face ja in hohem Alter gestorben war und darum kaum noch im Traum eines Lebenden aufzutauchen brauchte. Faktum jedoch blieb, wie sehr dieser Mann hier dem Allesforscher meiner Kindheit ähnlich sah, beziehungsweise besaß er die gleiche gestreckte, schmale Wirkung, die ihn für mich größer erscheinen ließ, als er war. Erst recht, wenn er vor mir stand, was bald geschah, weil ich ihn, während er gegen die Brüstung gelehnt eine Zigarette rauchte, ansprach. (So wie er rauchte, sah es aus, als wäre dies eine Art photosynthetischer Prozeß, als würde er die Luft eben nicht schlechter, sondern besser machen.)
Ich erfuhr, daß es sich bei diesem Mann um einen Messerwerfer handelte. Einen Artisten, einst ein Star, der nun, als älterer Herr, Kurse gab für Leute, die diese Kunst erlernen wollten. Unten im Tal hielt er in einem Bauernhof, den er gekauft und hergerichtet hatte, Seminare ab, so eine Mischung aus Zen und Fingerfertigkeit, jedenfalls war der versammelte Lehrgang für zwei Übernachtungen zur Hütte hochgestiegen.
Der Mann hieß natürlich nicht Little Face und besaß auch keinen unaussprechlichen slawischen Namen, sondern trug den Künstlernamen Mercedes, Marc Mercedes, was in keiner Weise an das bekannte Auto erinnern sollte, es aber dennoch tat.
»Und Sie haben wirklich nichts mit Elementarteilchen zu tun?« fragte ich ihn.
»Wie kommen Sie nur darauf?«
Ich sagte ihm, er würde mich an jemanden erinnern, den ich gekannt hatte, als ich Kind in Köln war.
»Ein guter Mann?«
»Der beste, der mir je untergekommen ist!« versicherte ich und erzählte, warum ich diesen geliebten Menschen und väterlichen Freund als Allesforscher bezeichnet hatte.
»Nun, tut mir leid«, meinte Mercedes, »ich war immer schon Messerwerfer, ich stamme
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