Der Allesforscher: Roman (German Edition)
augenblicklich spürbar. Wie ein Geruch, der auch in verstopfte Nasen dringt.
Wir waren natürlich nicht die einzigen, die von diesem Wetterumschwung, dieser jahreszeitlichen Rochade überrascht worden waren. Die meisten Leute hier waren Gefangene des Wetters und damit auch Gefangene der Gastronomie. Und bald wurde zudem klar, wie wenig dieser Wetterumschwung bloß ein kleines Intermezzo darstellte und demnächst die Wärme zurückkehren und das Wasser in Strömen vom Berg rinnen würde, gleich einem Langhaarigen, der unter der Dusche steht.
Nein, keine Dusche ergab sich, sondern eine dicke, mit Mehl gepuderte weiße Perücke der Zeit um 1700 , welche Stunde um Stunde anwuchs und es unmöglich machte, hinunter ins Tal zu gelangen. Man war, wie man so sagt, von der Welt abgeschnitten. Wir vier waren die letzten »Schiffbrüchigen«, die auf die Insel der Tulfeinalm geraten waren.
Wie ich sehr bald feststellte, wurde die Hütte von einer fünfzigjährigen Frau und ihren Töchtern betrieben. Es gab zwar auch einen Wirt, der jedoch von der Chefin (in der Tat wurde sie von allen als solche tituliert) in ihrem Zimmer … nun, wie soll ich das ausdrücken: aufbewahrt wurde ? Ich meine, er war selbstverständlich am Leben, nicht etwa ausgestopft oder so, durfte dieses Zimmer aber nicht verlassen. Vielleicht wegen einer Krankheit oder Entstellung, vielleicht … Ich wußte es nicht und brachte es auch niemals in Erfahrung. Möglicherweise existierte dieser Mann nicht wirklich, und es bestand allein das Gerücht. Ein Gerücht, das die Chefin der Hütte schmückte. Jeder hier hatte Angst vor ihr. Aber eben eine Angst, in der dieselbe Lust steckte, die uns dazu bringt, uns Horrorfilme anzusehen und Kriminalromane zu lesen.
Am wichtigsten war freilich, daß Clara Foresta es ebenfalls geschafft hatte, die Hütte zu erreichen. Allerdings hatte sie sich unterwegs verletzt, war am Gipfel der Sonnenspitze ein Stück abgerutscht. Glücklicherweise waren zwei Bergsteiger in der Nähe gewesen und hatten sie geborgen. Die alte Dame hatte jedoch darauf bestanden, nicht in die nahe gelegene Gipfelhütte des Glungezer gebracht zu werden, sondern hinunter zur Tulfeinalm. Zur Chefin. Und so kam es, daß Mercedes seine Frau genau an der erwarteten Stelle traf. Mit einem Kreuzbandriß, einigen Prellungen und einer Schnittwunde quer über die Stirn, einem dunkelroten Streifen, der exakt dieselbe Färbung aufwies wie das Rouge auf Forestas Wangen, auch wenn man es umgekehrt sehen konnte. In jedem Fall wirkte die Verletzung als ein Teil der kosmetischen Farbgestaltung dieses Gesichts.
Die Männer, die um Foresta saßen – egal, wie alt sie war, sie verfügte weiterhin über eine magnetische Wirkung –, machten Platz für Mercedes, der nun die Hände seiner Frau ergriff und sich überzeugte, daß diesen nicht das geringste geschehen war. Es war echte Sorge. Allerdings kam mir der Verdacht, daß er sich auch um sich selbst sorgte, weil er fürchtete, in eine wahrhaftige Hölle zu geraten, hätte seine Frau das Klavierspiel aufgeben müssen.
Doch ihre Hände waren vollkommen in Ordnung, die Finger zitterten in der vertrauten Art, und glücklicherweise gab es sogar ein Klavier in diesem Haus. Keinen Steinway-Flügel, das nicht, aber ein ganz ordentlich gestimmtes Piano, auf dem Clara ihre Einstudierung von 825 (so das Bach-Werke-Verzeichnis) fortsetzen konnte. Ja, wir sprachen von nun an nur noch von 825 , wenn wir diese Komposition meinten (und außerdem auch meinten, daß 825 eigentlich mehr von Foresta als von Bach stammte und man wegen Forestas Handicap zur Zeit von einer »Kreuzbandrißversion« sprechen konnte).
Auch hier am neuen Ort konnte ich also in der Nacht die sechs Klavierstücke hören, die Foresta übte, wenn alle zu Bett gegangen waren. Und niemand wagte es, etwas dagegen zu haben. Foresta tapezierte die Nacht mit ihrer Musik. Allerdings tat sie dies – wie ich rasch begriff – in einer neuen, dem Original widersprechenden Reihenfolge. Sie kreierte eine den besonderen Umständen und dem Ort geschuldete Spezialversion: 825 reloaded . – Ich benötigte eine halbe Nacht, um das neue System definitiv zu verstehen, wobei auf Grund der Schleifenbildung nun jedes der sechs Stücke das erste oder letzte sein konnte. Nicht, daß ich daraus eine Symbolik bezog. Ich war einfach froh darum, die neue Reihenfolge benennen zu können. (Es war eine der mystischen Vorstellungen meiner Kindheit, mitten in der Nacht von einer höheren
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