Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Bedingungen, als man meinen möchte. Es geschieht, was längst beschlossen ist.
Nachdem ich meine Ausbildung zum Fachangestellten in Mannheim in zwei statt in drei Jahren abgeschlossen hatte, landete ich mit knapp einunddreißig Jahren in jenem durchaus berühmt zu nennenden Mineralbad Berg in Stuttgart, das erst wenige Jahre zuvor in den Besitz der Stadt übergegangen war. Ein ehrwürdiges Bad, möglicherweise das ehrwürdigste auf der Welt. Ein Tasmanischer Tiger von nüchterner Schönheit, der noch immer in freier Wildbahn lebte, nicht nur gerüchteweise – obgleich es ihn gar nicht mehr hätte geben dürfen.
Dennoch, bei aller Liebe zum neuen Ort, wurde ich weder ein Stuttgarter, noch wurde ich ein Bergianer (wie die Stammgäste dieses Bades sich selbst nennen), ich wurde nicht einmal politisch (wie die Hälfte der Menschen dort im Zuge eines geplanten Bahnprojekts). Aber ich wurde nach zwei Jahren Praxis tatsächlich »Meister«, vor allem aber ein Teil dieser Badeanstalt, gewissermaßen ein Teil der Architektur, jemand, den die Leute mit »Herr Sixten« ansprachen, weil »Herr Braun« viel zu banal geklungen hätte. Eine besonders wohlmeinende ältere Dame erklärte einmal, sie fühle sich angesichts meiner Erscheinung an eine Figur aus der Sixtinischen Kapelle erinnert, weshalb mich »Herr Sixten« zu rufen ganz sicher nicht falsch sein könne.
Klar, daß ich mich erkundigte, an welche Figur sie dabei denke.
»Keine Angst, nicht an den Adam«, gab sie zur Antwort.
»Wieso keine Angst?«
»Na, weil der doch nackt ist. Und das sind Sie ja nicht. Alle anderen hier so gut wie, Sie nicht.«
Richtig, der Bademeister war der einzig wirklich Angezogene im Bad.
Die Dame sagte: »Nein, ich denke an den Daniel.«
Ich fragte sie, wofür dieser Daniel denn stehe, weil ja in einer bemalten Kapelle jeder für etwas stehen würde.
»Er ist der Prophet«, verriet sie, »der, den man in die Löwengrube geworfen hat, die er aber ohne einen Kratzer wieder verläßt.«
»Ach ja. Dann ist in meinem Fall Stuttgart die Löwengrube, oder was?«
»Stuttgart ist die Grube«, bestätigte die Dame, »und wir, die Stammgäste, sind die Löwen, die Ihnen nichts antun.« Sie lächelte verschmitzt und berührte sachte meinen Arm, wie das viele der älteren Damen hier zu tun pflegten: sehr dezent und dennoch vampirisch. Immer wenn sie mich kurz anfaßten, meine Hand, meine Schulter, wenn sie ein Stück Hüfte erwischten oder ihre Fingerkuppen auf das V meines Hemdausschnitts legten, zogen sie etwas aus mir heraus. Was aber nicht schlimm war, weil ich genug zu geben hatte.
Als die Bergianerin wieder ihre Hand von mir genommen hatte, fragte ich sie: »Was hat dieser Daniel eigentlich prophezeit?«
»Den Tod des Messias, und zwar auf den Tag genau. Ein halbes Jahrtausend, bevor Christus dann tatsächlich gekreuzigt wurde.«
Der Daniel-Vergleich verstörte mich ein wenig, nicht zuletzt, weil er völlig unpassend schien. Immerhin war ich überzeugt gewesen, Frau Dr. Senft würde ein langes Leben in anhaltender Schönheit beschieden sein. Und auch den Tod meines Sitznachbarn auf dem Flug nach Taiwan hatte ich nicht vorausgesehen. Nun gut, in erster Linie bezog sich der Vergleich natürlich auf die Art, wie Michelangelo diesen Daniel dargestellt hatte: das bademeisterartig weiße Obergewand und die ausgeprägten Muskeln des linken Arms. Ganz sicher aber nicht auf die wüste Beethovenfrisur, die der Prophet bei Michelangelo trug. Mein eigenes Haar hingegen war eine recht glatte, dunkelblonde Umrandung meiner Kopfform, und keine noch so wilde Nacht vermochte daran etwas zu ändern.
In diesem Bad Berg nun arbeitend, erstarrte mein Leben zu einer wohltuenden Routine. Ich war von den immer gleichen Menschen umgeben, denn selbst wenn in den heißen Sommern die Zahl der Besucher dieser in bezug auf das Wasser als »arschkalt« verschrienen Badeanstalt deutlich zunahm, war es ein feststehendes Stammpublikum, das die Einrichtung frequentierte, grad ein paar Jüngere kamen frisch hinzu, wie halt ein paar Ältere manchmal verschwanden.
Nur mein Gedächtnis bereitete mir hin und wieder Schwierigkeiten. Ich begann, manche Personen durcheinanderzubringen. So kam es vor, daß ich eine Dame mit ungarischem Akzent mit einer anderen Dame mit ungarischem Akzent verwechselte oder zwei ähnlich korpulente Stuttgarter Witwen, von denen auf die gleiche intensive Weise ein Veilchenduft ausging. Doch entweder fielen meine kleinen Fauxpaß nicht wirklich
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