Der Allesforscher: Roman (German Edition)
nicht veranlaßt gewesen, sich in einen fliegenden zu verwandeln. Nämlich dank einer Folge von drei Schritten und vier Bodenberührungen zwischen den Hürden. Der ungerade Rhythmus, der dazu führte, sich mit dem immer gleichen Bein voran über die Hürde zu schwingen. Auch dank der vogelartigen Streckung des Körpers beim Überwinden des Balkens sowie der von der Bewegung der Arme getragenen Balance. Nicht zuletzt im Zuge des Atemstillstands, der den Läufer am höchsten Punkt der Überquerung ereilte. Alles stand dann still: der Atem, der Körper, die Zeit, die Welt. Für einen so kurzen Moment, daß niemand es bemerkte. Ähnlich der absoluten Schwärze, die sich ergibt, wenn man zwinkert und für einen Augenblick sämtliche Dinge aus den Augen verliert, das Hirn einem jedoch vorgaukelt, alles sei unter Kontrolle. – Im Fall des Hürdensprints kam es mir vor, als würde der Läufer bei jedem Überflug in eine winzig kurze Ohnmacht geraten: zehn kleine komatöse Pausen!
Nun, damit dies alles so wie hier beschrieben auch wirklich funktionieren konnte – es ein Fliegen und nicht etwa ein Stolpern wurde –, brauchte es einen passenden Körper und die passende Beherrschung desselben. Wozu ich einerseits das zuletzt gewonnene, zusätzliche Gewicht wieder an die Natur zurückgeben mußte, ich andererseits angehalten war, meine Muskeln wachsen zu lassen und meine Kondition zu erneuern. Die Lauftechnik hingegen lag mir unverändert in Fleisch und Blut.
Ich absolvierte nun täglich ein Kraft- und Lauftraining, während ich einen großen Bogen um Orte machte, an denen in irgendeiner Weise Schokolade drohte.
Die Schokolade war meine Feindin. Was mir leid tat, weil sie ja während der letzten Jahre eine sehr gute Freundin gewesen war. Aber es ging nicht anders, ich war längst aus dem Alter heraus, wo allein der Sport ausreichte, um an allen Stellen des Körpers die grundsätzliche Anatomie zurückzugewinnen und zu bewahren. Der alternde Mann neigt zur Deformation. Was kein Problem ist, solange auch sein Alltag dieser Deformation folgt. Beim Überfliegen von Hürden freilich …
Es gelang. Die zehn Kilo verschwanden, die Schokolade rückte in weite Ferne, und wenn ich an freien Nachmittagen auf der Tartanbahn eines waldnahen Sportplatzes meine Hürden aufstellte und sodann von einem kleinen Koma zum nächsten eilte – immer wieder die dazwischenliegende Schrittfolge einübend, die Erhaltung des Gleichgewichts, die Flugtechnik, die Einheit von Mensch und Hindernis –, dann fühlte ich mich ungemein wohl. Wohler als mit den Frauengeschichten in den Jahren davor. Ich fing auch an, in die Kirche zu gehen, nicht, um zu beten, sondern um für Lana eine Kerze zu entzünden. Ein bißchen hoffte ich, sie würde mir ein Zeichen senden. Nichts Gigantisches, nur etwas wie einen plötzlichen Luftzug, ein Flüstern aus den leeren Reihen der Kirchenbänke oder ein Schimmern, wo eigentlich keines hätte sein dürfen. Oder aber den Anblick eines Insekts, welches direkt durch die Flamme der Lana gewidmeten Andachtskerze flog, ohne sich im geringsten zu verbrennen.
So was in der Art.
Doch das Zeichen, das mich dann erreichte, war ein ganz anderes als erwartet und erhofft. Das Zeichen war kein Insekt, sondern ein Kind, auch wenn dies für manche Kinderhasser oder genervte Eltern das gleiche sein mag.
10
Es passierte an einem dieser ersten wirklich heißen Tage. Alle waren sie wieder da, die immer erst ins Bad gingen, wenn es richtig warm wurde: die Zuhältertypen, die Bodybuilder, die Schwulen, die Liegestuhlfetischisten, die dünnen Frauen in Bikinis, die dünner waren als der Lack auf ihren Nägeln, all die Eincremer und Einsprüher, die aus den Löchern der Sonnenstudios gekrabbelt kamen, und natürlich die Sixpackfanatiker, die aussahen, als schnitzten sie jeden Tag mit einem scharfen Messer feine Rillen in ihre Torsi. Nirgends gab es dann so viele gut gebaute Männer wie im Bad Berg. Und nicht wenige, deren Haut den Farbton polierter Bronze besaß. Aus diesen Männern hätte man Kanonenkugeln gießen können. Was übrigens zu einer gewissen Wehrhaftigkeit der Stammgäste gut paßte. Natürlich waren auch jene »älteren Damen« vertreten, die man das ganze Jahr über sehen konnte, aber auch jüngere Schönheiten, jedoch erstaunlich wenig Silikon. Zumindest im Vergleich. Etwa im Vergleich zu Wien, wo ich zur Fortbildung gewesen war und in den dortigen Schwimmbädern das Gefühl gehabt hatte, kaum jemand laufe noch ohne
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