Der Allesforscher: Roman (German Edition)
auf, oder aber man ordnete mein zeitweiliges Verwirrtsein dem Geheimnis zu, das mich umgab. Immerhin war ruchbar geworden, daß ich einst für Weyland Europe und später im Unternehmen meines Schwiegervaters gearbeitet hatte, daß ich verheiratet und vermögend gewesen war und angeblich einen Flugzeugcrash überlebt hatte. Der Wechsel zur Bademeisterei mußte da mysteriös erscheinen.
Einige wußten zusätzlich um die Walgeschichte und wußten auch, daß ich ja nicht nur einen Absturz überlebt hatte, sondern in der Folge auch das wilde Ostchinesische Meer. So betrachtet, konnte man die Bademeisterei und das Bad Berg als konsequenten Endpunkt einer dramatischen Entwicklung nehmen.
Wie auch immer, man mochte mich, und niemand kam auf die Idee, meine Präsenz für ein schlechtes Omen zu halten. Etwa als Hinweis darauf, daß die Stadt Stuttgart irgendwann von einem kometengleich vom Himmel fallenden großen Wal getroffen werden würde. Oder was man sich bei dieser Stadt so alles vorstellen konnte oder wollte.
Auch außerhalb dieser unausrottbaren Badeanstalt wich mein Leben ein wenig vom Prinzip der Routine ab. Wechselnde Liebesabenteuer, viel Körper, wenig Geist. Nicht, weil die Frauen dumm waren. Aber auch nicht auf die Weise gescheit, die mich verzaubert hätte. Lanamäßig verzaubert hätte. Es verblieb alles im Bereich der Lustbarkeiten und diverser gemeinsamer Räusche, denen diverse Ernüchterungen folgten, so daß sich auf diese Weise doch wieder eine Routine ergab, ein Rhythmus. – Die meisten Menschen, die sich nahekommen, mögen sich nicht. Das kann man überspielen, manchmal lange, manchmal kurz. Doch insgesamt muß gesagt werden, eine gewisse Distanz zum anderen führt dazu, daß dieser sehr viel attraktiver erscheint. Im Grunde gefielen mir die alten Damen, denen ich im Schwimmbad begegnete, besser als die jungen, mit denen ich Sex hatte. Darin bestand das unauflösliche Dilemma, welches aber auszuhalten war, solange nicht von Ehe gesprochen wurde. – Ich ließ da nie einen Zweifel, sprach es immer offen aus. Erklärte, daß die Frau, die ich wirklich hätte heiraten wollen, gestorben war. Was mir überhaupt nicht schadete. Für lebende Frauen stellen tote Frauen das absolute Optimum dar.
Doch mit der Zeit ermüdete ich. In meinem vierten Stuttgarter Jahr bemerkte ich eine sexuelle Leere in mir. Zu früh eigentlich für einen Zweiunddreißigjährigen. Aber so war es eben. In gewisser Weise war ich den älteren und alten Damen des Bades Berg von nun an absolut treu. Und keine von ihnen verlangte mehr, als sich hin und wieder die eine oder andere Berührung herauszunehmen.
Sie sagten gerne: »Herr Sixten, Sie könnten mein Sohn sein.« Oder: »Sie könnten mein Enkel sein.« Und ich antwortete dann: »Schade, daß ich’s nicht bin.«
Erstaunlicherweise hatte ich mich in körperlicher Hinsicht – Hürdenläufer, der ich einmal gewesen war – in diesen ersten Stuttgarter Jahren ziemlich gehenlassen, hatte jedes Jahr zwei, drei Kilo zugenommen und eine heftige Liebe zu Süßigkeiten entwickelt. Zehn Kilo waren zehn Kilo, und sie hatten sich nicht etwa im Kopf oder an den Zehen verteilt.
Doch ausgerechnet von dem Zeitpunkt an, da ich der Libido abschwor, entwickelte ich ein dringendes Bedürfnis, meinen Körper nach dem alten Muster, dem Muster der frühen Jahre, zu formen. Ich begann, die Schokolade zu meiden und nach Dienstschluß meinerseits zu schwimmen. Vor allem aber fing ich nach Jahren der Abstinenz wieder an, Hindernisse zu überwinden. Nicht die ökonomischen meiner Managerjahre, deren Prinzip darin bestand, kreuz und quer zu stehen. Die Hindernisse des Wirtschaftslebens führten zu einem Chaos, die des Hürdenlaufs zu einer perfekten Ordnung. Selbst wenn die Hürde zu Fall kam, war dies Teil eines vernünftigen Konzepts. Denn keine dieser Hürden zeigte sich bockig, alle pflegten nachzugeben.
Wichtig allein war die Einhaltung eines Schemas, das ein Jahrhundert zuvor von einem Amerikaner namens Alvin Kraenzlein entwickelt worden war. Und welches eben nicht auf ein Überspringen, sondern ein flugartiges Überlaufen der zehn Erhöhungen ausgerichtet war. Eine Symbiose von Mensch und Barriere: wie da einer, der Mensch, mit dem anderen, der Barriere, dank einer flüssigen Bewegung eine Verbindung einging. Wobei die Barriere die exakt richtige Höhe besaß. Wäre sie höher gewesen, hätte man sie erklimmen oder umstoßen müssen, bei geringerer Höhe wiederum wäre der laufende Mensch
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