Der Allesforscher: Roman (German Edition)
schwiegen wir.
Dann wechselte Kerstin das Thema und fragte mich, wieso Astri ohne Begleitung auf diesen Berg gestiegen sei. Warum sie das Risiko eingegangen sei, solo zu klettern.
»Das war bei ihr die Regel«, sagte ich. »Natürlich, in der Kletterhalle war sie gezwungen, sich von irgendeinem Freund sichern zu lassen. Draußen aber, am Berg … Wo sie allein sein konnte, da war sie auch allein. Das hat übrigens für fast alles gegolten. Ich will mal so sagen: Selbst wenn sie hin und wieder eine Beziehung hatte, war sie lieber mit sich selbst zusammen.«
»Na, wenn man manche Typen anschaut, braucht das kaum zu wundern.«
»Ja, aber bei ihr war das keine Frage hoher Ansprüche. Eher war es so, als wäre sie … ich sage jetzt mal, eine Seelilie und das Zusammensein mit Menschen irgendwie abartig. Weil’s aber sonst kaum Seelilien in ihrer Umgebung gab, ist sie oft allein geblieben.«
»Eine kletternde Seelilie? Ich meine, die leben im Meer, oder?« Kerstin hob ihre Brauen, die übrigens so aussahen, als würde sich Kerstin zumindest an dieser Stelle durchaus malerisch betätigen. Aber im eigenen Gesicht war schließlich jede Frau eine Künstlerin. (Und wenn das ein Klischee ist, welches wäre keines?)
Richtig, anstatt Astri als Seelilie zu bezeichnen, hätte ich sie eigentlich mit einem alpinen Tier vergleichen müssen. Doch der Begriff gefiel mir einfach, zudem dachte ich an die vielen hübschen Versteinerungen fossiler Stachelhäuter.
»Also gut«, sagte Kerstin, wollte jetzt aber wissen, ob dies gleichfalls für meine Eltern gelten würde, daß nämlich auch sie Seelilien seien und es darum zwischen meiner Schwester und ihnen soviel inniger zugegangen sei.
»Nein«, sagte ich, »auch wenn sie Astri geliebt haben, so richtig verstanden haben sie sie genausowenig … Wie die meisten anderen Eltern wollten sie auch nur, daß ihre Tochter mal heiratet und Kinder kriegt – oder zur Not halt berufstätig ist und heiratet und Kinder kriegt. Klar, dem Vater hat das mit der Bergsteigerei gefallen, aber die Ausschließlichkeit, mit der sie das getan hat, hat ihn dann doch verstört. Ich sag mal so: Meine Eltern haben sich davor gefürchtet, ihre Tochter sei nicht ganz normal. In mehrfacher Hinsicht.«
»Sexuell nicht normal?«
»Zum Beispiel. Sie hat zuletzt ihre Wohnung mit einer Frau geteilt. Aber die war genauso asexuell wie Kerstin. Darum waren die beiden ja zusammen, um die Miete zu teilen, aber nicht das Bett. Vielleicht mochten sie sich auch. Wie man Dinge mag, die man nicht anzufassen braucht, um sie zu mögen. So was wird schwer verstanden heutzutage, wo uns jede noch so schräge Perversion näher ist, als wenn jemand keinen Sex will.«
»Ich mochte auch lange keinen.«
»Sag jetzt aber nicht, ich hätte dich geheilt.« Ich zwinkerte ihr zu.
»Nein, geheilt hab ich mich selbst. – He, wo ist eigentlich Simon?«
Ich schaute mich um. Auf der Wiese war er nicht zu sehen. Vielleicht war er ein Stück in den Wald gelaufen, spielte hinter einem Busch. Ich rief seinen Namen, den er ja durchaus verstand und auf den er in der Regel wie die meisten Kinder und Katzen reagierte, nämlich manchmal . Oder eben erst beim dritten oder vierten Mal. Weshalb ich jetzt wiederholt nach ihm rief. Aber er tauchte nicht auf.
Ich stand von meinem Platz auf. Ziemlich ruhig noch. Warum auch nicht? Wahrscheinlich stand er bloß ungünstig. Ich machte einige Schritte und rief erneut. Und sagte mir: »Na, weit kann er ja nicht sein.«
Sagen das nicht alle, bevor dann die Einsicht folgt, daß es eben doch weiter sein kann als gedacht? Weiter und gefährlicher. Etwa, wenn ein Kind ins Wasser fällt. Wenn es in ein fremdes Auto steigt. Und der Alptraum beginnt.
»Ist dort ein Fluß?« fragte ich. »Hinter dem Wald?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kerstin. »Wieso? Hörst du was rauschen? Außerdem … der Simon kann doch schwimmen! Ich meine, als der Sohn eines Bademeisters, ha!« Sie lachte. Aber es war eine Unsicherheit in diesem Lachen. Auch Kerstin hatte sich erhoben, drehte den Kopf gleich einer Eule.
Ich spürte die Panik in mir hochsteigen. Panik im Blut. Freilich noch geteilt von der Erfahrung der letzten Jahre, daß die Kinder dann eben doch kamen, manchmal mit einer Schramme, manchmal mit Tränen, manchmal mit einem Schrecken, aber eben wieder auftauchten. Es waren die anderen, bei denen sie für immer verschwanden, andere, die man in der Regel nur aus der Zeitung und dem Fernsehen kannte. Und betete, daß es
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