Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Gesicht. Simon lachte. Kerstin meinte, es erinnere sie an diese Aluminiumfolien, die sich die Menschen in den Sechzigern zum Braunwerden unters Kinn gehalten hatten.
Ein iPad, mit dem man braun wird! – Mein Gott, früher wäre das eine Idee gewesen, aus der ich ein Geschäft gemacht hätte.
Wir gingen weiter, durchquerten hochwandernd die Alm und gerieten wieder an einen Bach, der in seinem Felsbett steil nach unten schoß und den man auf einer kurzen Brücke überqueren mußte. Nie war eine Brücke simpler gewesen: vernagelte Bretter mit schmalen Ritzen, die ohne jegliches Geländer auskamen. Selbst in vielen Abenteuerfilmen gab es Brüstungen, warum nicht hier? Auch war das Ding bloß mit einem Draht fixiert worden.
Es sah wirklich gefährlich aus. Ich verspürte einen kindlichen Zorn in mir. So einen, der dazu führt, daß man stur die Arme verschränkt und erklärt: »Ich gehe da nicht drüber. Und wenn ihr euch aufhängt. Und wenn ich hundert Jahre Fernsehverbot bekomme.«
Aber noch bevor ich dergleichen von mir geben konnte, hatte Simon nach meiner Hand gegriffen. Er hatte seine Skibrille hochgezogen und schaute mich mit seinen schwarzen, großen Augen an, deren lange Wimpern eine Allee bildeten, Wimpern, von denen manche Frauen in Stuttgart meinten, es sei eine Gemeinheit, daß dieser Junge sie besitze, wo er sie doch gar nicht nötig habe. Erst jetzt fiel mir ein, wie sehr Simons lange Augenhaare zu denen eines Straußenvogels paßten. Aber das war in diesem Moment nicht der Punkt. Sondern wie sehr der Junge bemüht war, mir die Angst zu nehmen. Sein Lächeln umklammerte meine Sorge.
Keine Frage, er war bereit, mich an der Hand über den Steg zu führen, der freilich nicht nur ohne Geländer war, sondern auch recht schmal. Seite an Seite wäre es zu eng gewesen.
»Geh du vor«, bat ich Simon.
Er verstand mich, marschierte los. Ich in seinem Schatten. In der Mitte aber blieb ich plötzlich stehen. Und zwar nicht aus Panik – obgleich ich durchaus eine solche verspürte –, sondern um dieser Panik eins auszuwischen. Denn sowenig ich den Anblick des Abgrunds ertrug, zog ich ausgerechnet jetzt das iPad aus dem Rucksack, hielt es mir erneut vors Gesicht, öffnete das Fotoprogramm und tippte auf das Symbol des Auslösers. Dabei meinte ich, meine Beine nicht mehr zu spüren. Nicht nur einfach taub, sondern aufgelöst, verschwunden. Mein Rumpf schwebte. Aber er schwebte etwas unruhig, schaukelte im Wind. Gleichzeitig empfand ich eine Begeisterung ob meiner Handlung. Ich fiel nicht um und auch nicht in Ohnmacht, sondern packte das iPad wieder ein und beendete den Gang. Gewissermaßen das kurze Stück auch ohne Beine überwindend.
Nachdem wir alle die Brücke passiert hatten, fragte mich Kerstin: »Was war das denn grad?«
»Der Triumph des Willens.«
»Du weißt aber schon, daß das der Titel von einem Nazifilm ist.«
Stimmt. Doch daran hatte ich nicht gedacht und sagte einfach: »Jetzt ist es halt mein Titel.«
Im Grunde war das auch ein schöner Ausspruch. Wie sehr das Wollen imstande war, die eigene Schwäche auszuhebeln (ironischerweise war es bei den Nationalsozialisten eigentlich umgekehrt gewesen). Aber Kerstin ließ mich nicht gewähren. Sie fragte: »Ist dir eigentlich klar, daß oberhalb von der Hütte ein Bergwerk ist, das die Nazis betrieben haben? Mit Zwangsarbeitern.«
»Wie bitte?« Ich hatte nicht die geringste Ahnung. »Was für ein Bergwerk denn, um Himmels willen?«
»Du heute mit deinem Willen!« Sie wunderte sich über mich. Daß ich nichts gelesen hatte über den Berg, auf dem meine Schwester gestorben war. Den Berg und was hier alles geschehen war.
»Ich weiß, wie hoch er ist«, sagte ich, aber nicht einmal das stimmte wirklich.
Kerstin klärte mich auf. Dort, wo der Astri-Berg im südlichen Kammverlauf auf seinen Nachbarberg traf, lag eine Scharte, unterhalb derer die Nazis ein Stollensystem zur Gewinnung von Molybdän errichtet hatten.
»Molyb… was?«
»Molybdän. Man hat das zur Härtung von Stahl benötigt. – Panzerrohre!« erläuterte Kerstin und fügte an, daß neben der Berghütte, zu der wir uns gerade bewegten, noch das erste Lager der Zwangsarbeiter zu erkennen sei.
Ich fragte mich, ob man eigentlich irgendeinen Flecken in diesen Ländern Österreich und Deutschland finden konnte, der nicht auf diese Naziweise vergiftet war. Von der Geschichte verdreckt, hier um so mehr, als über das Schicksal der Menschen, die man in der alpinen Höhe verschlissen
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