Das Meer Der Tausend Seelen
1
S ogar noch nach der Rückkehr, so erzählt man, hatten sie die Karussells in Gang gehalten. Angeblich erinnerte sie das an die Zeit davor, als von den Toten auferstehende Menschen kein Problem waren und weder Zäune noch Mauern und Barrieren zum Schutz vor den Mudo-Massen errichtet werden mussten, die unablässig nach Menschenfleisch gieren. Das war die Zeit, als die Lebenden nicht ständig gejagt wurden.
Die Karussells gaben ihnen das Gefühl, normal zu sein, hatten sie gesagt.
Und deshalb waren diese Karussells auch noch in Betrieb, als die Mudo – Nachbarn und Freunde, die angesteckt, gestorben und zurückgekehrt waren – an den Zäunen rüttelten, die den Vergnügungspark umgaben.
Selbst nachdem man den Wald abgesperrt hatte, ein letzter verzweifelter Versuch, die Infektion einzudämmen und die Mudo aufzuhalten, drehten sich die Karussells weiter, fuhren rumpelnd die Wagen der Achterbahn, wirbelten die Gondeln des Top Spin. Obwohl Vista weit vom Herzen des Protektorats entfernt lag, hatte man in meiner Stadt gehofft, dass nach wie vor Leute herkommen würden … zum Achterbahnfahren und Vergessen.
Doch dann war das Reisen zu schwierig geworden. Die Menschen mussten sich ums Überleben kümmern, und kaum etwas konnte sie die harsche Wirklichkeit vergessen lassen, in der sie lebten. Draußen vor der alten Stadt, die am Ende einer langen, tückischen Küstenstraße lag, verfielen die Karussells langsam. Sie wurden einfach von allen vergessen, waren nur irgendeine Erscheinung aus dem Leben vor der Rückkehr, die hin und wieder in den durch die Jahre überlieferten Erinnerungen und Geschichten aufflackerte.
Ich habe eigentlich nie einen Gedanken an die Karussells verschwendet … bis heute Abend, als der ältere Bruder meiner besten Freundin uns eingeladen hat, heimlich mit ihm und seinen Freunden über die Barriere in die Ruinen des Vergnügungsparks zu klettern.
»Komm schon, Gabry«, quengelt Cira und tänzelt um mich herum. Ihre Energie und Aufregung sind beinahe mit Händen zu greifen. Wir stehen neben der Barriere, die Vista von den Ruinen der alten Stadt trennt, vor der dicken Holzwand, die die Gefahren der Welt draußen hält und uns sicher dahinter. Ein paar der älteren Jugendlichen springen schon darüber, ihre Füße blitzen hell vor dem Nachthimmel auf. Ich reibe die Handflächen an den Beinen, mein Herz hämmert in meiner Brust. Es gibt tausend Gründe, warum ich nicht mit ihnen in die Ruinen gehen will – dass es verboten ist, fällt dabei kaum ins Gewicht. Doch aus einem einzigen Grund will ich dieses Risiko eingehen. Ich schaue an Cira vorbei zu ihrem Bruder, unsere Blicke begegnen sich. Die Hitzewelle, die in mir emporkriecht, ist nicht aufzuhalten. Schnell wende ich den Blick ab, hoffe, er hat ihn nicht bemerkt, wünsche mir jedoch nichts sehnlicher als das.
»Gabry?«, fragt er mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, mein Name klingt schmeichelnd aus seinem Mund. Eine Einladung.
Weil ich Angst habe vor dem, was ich sagen könnte, schlucke ich und lege meine Hand an das dicke Holz der Barriere. Noch nie bin ich auf der anderen Seite gewesen. Die Stadt ohne Erlaubnis zu verlassen, ist gegen die Regeln und obendrein noch riskant. Die meisten Ruinen sind zwar von alten Zäunen aus der Zeit vor der Rückkehr geschützt, aber die Mudo können trotzdem durchbrechen und uns angreifen.
»Das sollten wir nicht tun«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu Cira oder Catcher. Cira verdreht nur die Augen, sie hüpft schon vor Ungeduld, weil sie sich den anderen anschließen will. Sie packt meinen Arm und kann ihre Begeisterung kaum unterdrücken.
»Das ist unsere Chance«, flüstert sie mir zu. Ich erzähle ihr nicht, was ich gerade gedacht habe – nämlich, dass dies bestenfalls unsere Chance ist, in Schwierigkeiten zu kommen –, und ich mag nicht mal daran denken, was uns schlimmstenfalls passieren könnte.
Doch sie kennt mich so gut, dass sie meine Gedanken lesen kann, und versucht mich zu überzeugen. »Seit Jahren ist niemand mehr angesteckt worden«, sagt sie. »Catcher und die anderen gehen andauernd da raus. Es ist absolut sicher.«
Sicher – das ist relativ. Meine Mutter spricht dieses Wort immer mit einer gewissen Schärfe aus. »Ich weiß nicht …«, erwidere ich, ringe die Hände, wünschte, ich könnte einfach Nein sagen. Aber ich hasse es, meine beste Freundin zu enttäuschen. Das habe ich nämlich schon zu oft getan.
Zum Beispiel vor einigen Jahren während der Dürre, als Cira
Weitere Kostenlose Bücher