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Der Amokläufer

Der Amokläufer

Titel: Der Amokläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker, unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß ich immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in mein Gefühl gekommen war, daß ich – vielleicht ist es am besten so ausgedrückt – an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater und in der Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden waren und sie dann unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch liegen ließ, daß ich zwar mechanisch weiter meine Liebhabereien sammelte, Gläser und Antiken kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen undmich eines seltenen und langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb sonderlich zu freuen.
    Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer – auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem sich lebhaft angelockt fühlte – in Wien geblieben, als ich plötzlich aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei Jahren eine intime Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen Mann kennengelernt, der ihr viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn im Herbst heiraten, und zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende sein. Sie denke ohne Reue, ja mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte Zeit zurück, der Gedanke an mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste ihres vergangenen Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen Entschluß verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch bei einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn sie sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!«Ich las diesen Brief, zuerst überrascht von der Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert, noch ein zweites Mal und nun mit einer gewissen Beschämung, die sich bewußt werdend rasch zu einem inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts von allen den starken und doch natürlichen Empfindungen, die meine Geliebte als selbstverständlich voraussetzte, hatte sich auch nur andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und nichts rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie zurückzuerobern, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem, was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir fortgeschritten war – ich glitt eben durch wie auffließendem, spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu sein, und ich wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichenhaftes war, noch nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Verwesung, aber doch schon rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit, die Minute also, die dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch äußerlich sichtbaren Verfall vorangeht.Seit jener Episode begann ich mich und diese merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu

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